Kategorien
Allgemein Ausstellungen Autor*innen Bild und Abbild Denkmäler Digitales Bild Europa Influencer*innen Kunst Kunstgeschichte Kunsthistoriker*innen Museen Reise Spiele Trendsetter*in Unterwegs

Jean Siméon Chardin…

… ist einer der sinnlichsten Maler, die ich kenne. Trotzdem zögern die Veranstalter neuer Lichtspiele mit Kunst, mit seinen Werken Räume zu gestalten. Zumindest habe ich bisher nicht gehört oder gesehen, dass einer der zeitgenössischen Ausstellungsmacher (wie das Atelier des Lumières in Paris) seine Gemälde auf große Flächen projiziert hätte. Dabei wurden die Impressionisten, die sich von Chardin bekanntlich maßgebend inspiriert haben lassen, schon mehrfach in diesen neuen Galerien thematisiert. Warum also nicht auch einer ihrer Vorgänger?

In seinen stillen Genrebilder – wie das bekannte „La Bénédicité“ (1725/50), auf der Seite des Louvre unter: https://collections.louvre.fr/ark:/53355/cl010059556 zu sehen oder „La Pourvoyeuse“ (1739) unter: https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010059178  – würde man sich trotz der Bescheidenheit des Raums gut aufgehoben fühlen. Die Frauengestalten sind leicht melancholische Wesen, deren Wärme sich in ihrer – meist kargen – Umgebung, der Küche oder der dependances ausbreitet. Kinder und Jugendliche in seinen Gemälden sind kleine, elegante, brave und musisch begabte Abbilder der verhaltenen Erwachsenenwelt. Die Ruhe dieser häuslichen Welt scheint Chardin mehr fasziniert zu haben, als alles andere.

Abseits lauter Marktbilder entstanden auch seine Stillleben mit einfachen „Zutaten“ wie Pflaumen, Pfirsiche, Kupferkessel, Silberbecher und Weinflaschen auf breiten Steinplatten. Eine schöne Sammlung davon besitzt der Louvre und man wird nicht satt, diese kleinen Bilder der kulinarischen Vollkommenheit zu betrachten:

„Panier de pêches, avec noix, couteau et verre de vin“ (1768) – https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010059177

„Ustensiles de cuisine, chaudron, poêlon et oeufs“ (1733) – https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010059558

Berühmt sind auch die zu kleinen oder größeren Mahlzeiten gedeckten Tische mit feinem Porzellan, seltenen Früchten und guten Speisen im diskret feierlichen Ambiente, wie: „Le Bocal d’olives“ (1760) – https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010059554 oder „La Brioche“ (1763) – https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010059552

Große Aufnahmen dieser und anderer seiner Gemälde würden wahrscheinlich die ruhige Atmosphäre der lichten Interieurs verstärken, vielleicht auch eine genaue Betrachtung des Farbauftrags und der Pinselführung ermöglichen und ein besseres Verständnis seiner Kunst herbeiführen. Das Ineinandergreifen der Malweise, des Weltbildes des Künstlers und der Einladung an den Betrachter, Teil dieser kleinen verzauberten Welt zu werden, wäre möglicherweise nachvollziehbar. Die Erfahrung der Intimität eines künstlerischen Universums wäre auch für den Besucher eine solchen Lichtausstellung ein willkommenes Erlebnis in einer rastlosen Zeit.

Umso schöner den geheimnisvollen Werdegang eines Malers zu verfolgen, dessen Karriere mit einem Rückgriff auf die flämische Barockmalerei und einem verhältnismässig „lauten“ Bild begann:

„La Raie“ (1728) – https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010065938

Kategorien
Allgemein Antike Autor*innen Bild und Abbild Denkmäler Digitales Bild Europa Influencer*innen Kunst Kunstgeschichte Kunsthistoriker*innen Museen Reise Trendsetter*in Vortrag

… zurück zu Byzanz / unterwegs (Serie)

In den 1990er Jahren kehrte ich noch einmal thematisch zu Byzanz zurück, aber – aus heutiger Sicht betrachtet – nur um gründlicher Abschied zu nehmen. Die Abteilung Byzantinistik des Instituts für Altertumskunde der Universität zu Köln organisierte unter der Leitung von Professor Dr.Dr. h.c. Peter Schreiner (* 1940) im Frühsommer 1998 eine Reise nach Istabul, um einige der byzantinischen Denkmale zu besichtigen. Es gab Referate zu den Sehenswürdigkeiten und wir konnten viele Kenntnisse der Geschichte vor Ort besprechen.

Im Freundeskreis teilte ich mit, ich würde nach Konstantinopel fahren und war so aufgeregt, wie selten bei einer Reise in Ländern Europas. Die Erinnerungen sind sehr verblasst, aber einiges – wie die Bosphorus-Fahrt – ist so lebendig geblieben, als hätte die Exkursion gestern stattgefunden. Wir sahen und lernten viel über die Hagia Sophia, Hagia Eirene, über die Fussbodenmosaiken des alten Palastes, über den Hippodrom, über die Lateinerquartiere und Galata. Kalenderhane Camii, Süleyman Camii, Koca Mustafa Pasa Camii, Chora-Kirche, Pammakaristos, Polyeuktos, Lips-Kloster bekamen mit jedem neuen Tag mehr Substanz und wir freuten uns, über erhaltene und nicht mehr erhaltene Reste Neues zu erfahren.

Unter anderem wählte ich über die Kariye Camii (ehem. Chora-Kloster) zu referieren und blieb lange Zeit in Gedanken an dem teilweise erhaltenen, ikonographischen Programm. Interessant war nicht nur die Tatsache, dass es sich hierbei um das ausgedehnteste, in den ehemaligen Grenzen des byzantinischen Reichs erhalten Bilderzyklus handelt (übertroffen nur noch von San Marco in Venedig und Monreale auf Sizilien), sondern, dass es – als Grablege eines byzantinischen Gelehrten, Theodoros Metochites (cca. 1260-1332) – eine Komplexität der Themen aufweist, wobei der theologische Gehalt bislang unvollständig erschlossen bleibt. Die literarischen Quellen, aus denen die Bilder komponiert wurden, waren Szenen aus dem Alten Testament (mit Bezug auf Tod, Auferstehung und Leben nach dem Tod), aus dem Neuen Thestament (insbesondere Lukas-Evangelium) und Apokryphen – das sogenannte Protoevangelium des Jakobus, Evangelium des Pseudo-Matthäus und Marienevangelien.

Theodoros Metochites war Politiker und Regierungschef unter Andronikos II. Palaiologos (1282-1328), er veranlasste einen Neubau der Kirche und die Ausstattung mit Mosaiken und Wandmalereien sowie den Ausbau des Klosters und der Bibliothek. Nach seiner Verbannung nahm Metochites den Namen Theoleptos an, zog sich 1330 hier zurück und wurde zwei Jahre später hier bestattet. Das Bildprogramm könnte von ihm oder auch von Nikephoros Gregoras (1295-1359/61) entworfen worden sein. Die Themen waren das Leben Mariens, die Kindheit Christi, das Leben und Wirken Christi, Repräsentationsdarstellungen (wie der Pantokrator, das Stifterbild, Deesis und Heilige) und ein Festbildzyklus (im Naos nur noch die Koimesis erhalten). Ich erinnere mich, dass es sehr viel Spaß bereitete, die Szenen aus der Kindheit und der Jugend Mariens mit den apokryphen Texten zu vergleichen und ikonographische Verwandtheiten zu entdecken. Sicher müsste einer umfassenden Interpretation mehr als nur ein oberflächliches Referat zugrunde liegen, aber die Möglichkeit, den Gedanken des Stifters anhand der Mosaiken zu folgen, bewegte mich dazu, die Texte vor Ort zu lesen und auf die Details der Darstellungen aufmerksam zu machen.

Anfang Juni 1998 endete die erfolgreiche Exkursion. Zwei Jahre später verließ ich Köln und auch die Byzantinische Abteilung der Universität auf der Suche nach neuen Themen in der Geschichte der Kunst. Ohne Kenntnisse der griechischen Sprache konnte ich den ganzen Umfang von Byzanz nur erahnen, aber nie richtig verstehen. Ich sah mich damals nicht in der Lage, mir die Sprache zufriedenstellend anzueignen, so dass ich verschiedene Schriften im Original hätte lesen können. Außerdem wusste ich, dass die Kunst des Byzanz ein Fach der Lücken ist. Sicher arbeitet man in den historischen Wissenschaften immer mit Lücken, aber in Byzantinistik ist das nochmal schlimmer. Kaum etwas ist erhalten, vieles wurde zerstört, Spuren reichen meist nicht aus, um zusammenhängende Bilder zu ergeben. Vielleicht habe ich etwas versäumt, aber im Westen auch viel Neues erfahren.

Bilderquelle: Wikipedia, Chora-Kirche, 2023.

Kategorien
Allgemein Antike Autor*innen Bild und Abbild Denkmäler Digitales Bild Europa Kunst Kunstgeschichte Reise Unterwegs

Der Brunnen an der Schießgrabenstraße… / Brunnen in Augsburg (Serie)

… nennt sich Kesterbrunnen.  Der Name kommt von dem Rechtsrat Theodor Kester (1847-1906), der zusammen mit Friedrich Keller (1828-1910) und seiner Frau Luise (1836-1902) eine Stiftung gründete, die den Brunnen 1908 erwarb. Der Bildhauer August Pausenberger aus München schuf die schlichte Skulptur des bronzenen Jünglings mit Weinschlauch, aus dem ein Wasserstrahl fließt. Am 4. Mai 1909 wurde der Brunnen in der Nähe des Marienplatzes an seinem jetzigen Ort aufgestellt, während des Zweiten Weltkriegs – zum Einschmelzen für Kriegsmaterial nach Hamburg verfrachtet, woher es 1950 – auf einem Schrottplatz entdeckt – unversehrt zurückkehrte.

Es ist der erste Brunnen, den ich in diesem Frühjahr aufgedeckt sah. Ein rot blühender Frühlingsstrauch in der Nähe leitete mich zu einer Collage, als würde die Skulptur aus den Zweigen erstehen. Der nackte jünge Körper im antiken Kontrapost erinnerte mich im Vorbeigehen an den Doryphoros, dem bronzenen Speerträger des griechischen Bildhauers Polyklet (5. Jh. v.Chr.), der in römischen Marmorkopien bekannt wurde. Der erhobene linke Arm und die lockere Haltung ähnelt aber auch jenem des David (1501/04) von Michelangelo (1475-1564) in Florenz. Beide Vorgänger bilden aber ältere und kräftigere Körper ab, der Augsburger Jüngling lehnt sich in seiner Knabenhaftigkeit eher an Auguste Rodins (1840-1917)  „Ehernes Zeitalter“ (1875/76) an oder, noch eher, an den David (1440) des Donatello (1386-1466).

Alle hier genannten Statuen, die ich vor allem aus Abbildungen in Büchern kenne, sind mit dem schönen Knaben von Pausenberger verwandt. Die Reihe könnte auch noch durch andere Analogien ergänzt werden. Ob es zwischen dem Jugendstil des Kesterbrunnens und den älteren Werken eine reale Abhängigkeit besteht, könnte eine kunsthistorische Untersuchung ergeben. Wahrscheinlich müsste man hier auch Darstellungen von Jungen in dem Gefolge des griechischen Weingottes Dionysos heranziehen. Unabhängig davon ist aber die Allee, die der Brunnen eröffnet, eine kleine (natürliche und gedankliche) Oase inmitten eines belebten Zentrums der Stadt. Wer heute diesen Weg von oder zum Augsburger Königsplatz nimmt, zieht die vorübergehende Ruhe und einen kulturellen Abstecher dem Trubel der Stadt vor.

Ich gehe nicht ohne an den letzten Skandal um den David von Michelangelo in den USA zu denken. Die nackte Statue des Brunnens an der Schießgrabenstraße war ursprünglich mit zierlichen, abschraubbaren Weinblättern bedeckt. Das war aber 1909! Es verlor niemand den Posten wegen einer vermeintlichen Pornodarstellung. Und die zahlreichen Schüler des Augsburger Holbein-Gymnasiums, die täglich an dem Brunnen vorbeigehen, haben kaum einen Blick übrig für die verhaltene und diskrete Aktdarstellung in Bronze eines jungen Mannes mit Weinschlauch, aus dem ein Wasserstrahl fließt…

(Vgl. Schad M., Brunnen in Agusburg. Gondrom 1992, S. 62-65.)

Kategorien
Agenturen Allgemein Antike Ausstellungen Autor*innen Bild und Abbild Blockchain Collage Denkmäler Deutscher Verband für Kunstgeschichte Digitales Bild Europa Influencer*innen

Zu Besuch in Köln / unterwegs (Serie)

Es ist ein seltsames Gefühl, Orte zu besuchen, in denen man einst gelebt hat. Irgendwie kennt man die besser als ein Tourist, irgendwie will man nach Hause, aber man bleibt im Status des Gastes gefangen. Mit Sehenswürdigkeiten kann man nicht viel anfangen, weil man sie in- und auswendig kennt, an Stellen, wo sich das Leben ehemals abgespielt hat, kann man nicht verweilen, man besucht sie lediglich von außen. Irgendwie ist man Tourist in der eigenen Vergangenheit, ein Besucher des eigenen Lebens.

Ich bin relativ oft in Köln, in der Stadt, in der in den 1990er Jahre gelebt habe. Jedes Mal gehe ich den Dom und mache immer die gleichen Bilder vom Hauptschiff, vom Querhaus, vom Chorraum. Ich kann mich an dem Licht nicht satt sehen, den großen geschlossenen Raum nicht genug erleben. Ich bleibe im Langhaus, am Altar Stephan Lochners (1400/10 – 1451), an dem Schrein mit den Gebeinen der Heiligen Drei Könige, auf dem Mosaik des Chors und wieder zurück im Querhaus stehen.

Die Dreikönigenpforte in der Nähe der Kirche Sankta Maria im Kapitol kommt mir in den Sinn, in deren Nähe der Erzbischof und Reichskanzler Kaiser Friedrich Barbarossas (um 1122 – 1190), Rainald von Dassel (1114/1120 – 1167) im Sommer 1164 die Gebeine der Heiligen Drei Könige von Mailand nach Köln gebracht haben soll. In römischer Zeit standen da Tempel und weiter westlich, um den heutigen Neumarkt, – Thermen. Diese Bauten, die in Köln leider nicht mehr vorhanden sind, gehören zu den m.E. schönsten der römischen Alltagsgeschichte und können vielerorts an archäologischen Stätten europaweit betrachtet werden. Natürlich dachte ich im verregneten Köln der 1990er Jahre immer wieder an das caldarium, während ich in Cafés um den Neumarkt heiße Schokolade trank.

Doch von der Domplatte aus betrachte ich jedes Mal von oben herab das kurze Stück gepflasterter römischer Straße, die unweit des Römisch-Germanischen Museums erhalten geblieben ist. Früher hüpfte ich unten von einem Stein auf den anderen, über die breiten Furchen, die sie umgaben, und dachte an die zahllosen gebrochenen Achsen der Wägen in den Antike und der ebenso vielen verletzten Knöchel von Sandalenträger*innen. Aber vielleicht war damals Sand und Schotter zwischen den großen Steinen etwas höher oder wurde regelmässig erneuert, so dass es nur leichte Unebenheiten gab.

Der Heinrich-Böll-Platz hinter dem Dom, hinunter zum Rhein, hat mich in Köln von Anfang an fasziniert. Für eine Zwischenprüfung an der Universität lernte ich Kölner Denkmale in- und auswändig, darunter auch Verschiedenes über diese Treppenarchitektur gestaltet von dem israelischen Künstler Dani Karavan (1930-2021). Heute ist die Anlage unter anderen mit Lavendel begrünt und lässt mich immer wieder an den Süden Frankreichs denken. In Portbou, an der Grenze zu Spanien, gibt es seit Mitte der 1990er Jahre eine Gedenkstätte „Passagen“ ebenfalls von Karavan in Erinnerung an Walter Benjamin (1892-1940) errichtet, die ich Anfang der 2000er besuchte. In Köln führen weite Terrassen zum Rhein, in Portbou ist es ein schmaler Korridor aus Stahl, der Besucher zum Wasser leitet. Gemeinsam ist den Orten, wie mir scheint, die Melancholie: in Köln grenzt die Anlage an den Bahnübergang der Hohenzollernbrücke, in Porbou ist das Denkmal an der dortigen Friedhofsmauer gebaut. In beiden Fällen spielen Wind, Wasser und Licht eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung der Ensembles.

Kategorien
Allgemein Autor*innen Bild und Abbild Collage Digitales Bild Europa Kunst Kunstgeschichte Kunsthistoriker*innen Museen Nicht verpassen Reise Unterwegs

Von Byzanz weg… / unterwegs (Serie)

An ein Praktikum in der nördlichen Moldau und der Bukowina nach dem vierten Semester Kunstgeschichte an der Bukarester Akademie der Kunst erinnere ich mich immer wieder gerne. Wir hatten die Aufgabe, die ikonographischen Programme der Malereien in den mittelalterlichen Kirchen zu verfolgen und Abweichungen zu interpretieren. Es war ein heißer Sommer und wir suchten alle relevanten Klosterkirchen mit Aussen- und Innengemälden auf. Damals lernte ich von der damaligen Professorin Corina Popa (*1942), dass es für Kunsthistoriker*innen keine verschlossenen Türen gibt, wenn es um Kunst geht.

Wir gingen entschieden in die Kirchen rein bis zum Altarraum, der in orthodoxen Ländern nur dem Priester vorbehalten ist und hielten uns dort auf, bis alle Heiligendarstellungen erschöpfend besprochen waren. Den entrüsteten Nonnen erörterten wir den Wert der Kunst und der Denkmale, der auf jeden Fall als der religiösen Nutzung übergeordnet zu sehen sei. Erst nachdem wir alles aufgezeichnet und vertieft hatten, verließen wir wieder die Räumlichkeiten unsicher darüber, ob wir selber unter Zeitdruck zum nächsten Denkmal eilten oder mehr oder minder verdeckt rausgeschmissen wurden.

Auf jeden Fall nahm ich die Überzeugung mit, dass ich vor verschlossenen Türen an Denkmalen keinen Halt machen muss. Und in meinen späteren Reisen durch Europa sah ich eigentlich alles, was ich sehen wollte, sei es dass der Schlüssel einer romanischen Kirche mittags bei einem schlafenden Küster war, sei es dass der Besuch einer Sehenswürdigkeit nur einer begrenzten Anzahl von Touristen gestattet wurde, oder dass in einem bestimmten Raum gerade getagt, gefeiert oder gebetet wurde.

In einem Sommer in den 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts war ich in einem Urlaub auf der Chalkidiki. Ich nahm das als Anlass auch Thessaloniki zu besuchen und da die byzantinischen Kirchen. Seit einer Reise in meiner Kindheit war ich in dem Griechenland meiner Großeltern nicht mehr gewesen und vieles wusste ich nicht mehr. An der Osios David, der Kirche des ehemaligen Latomos-Klosters – seit 1988 Teil des UNESCO-Welterbes – war der Pförtner unwillig uns, wenigen Touristen, die Tür zu öffnen. Es war Mittag, es war heiß, er setzte sich auf einer Bank vor dem Eingang in der Kirche und machte keine Anstalten die Kirche jemals öffnen zu wollen. Nach einiger Wartezeit, in der sich niemand und nichts bewegte, sammelte ich meine Erinnerungen der griechischen Sprache zusammen – „Du kannst das, was die Griechen vergessen haben“, pflegte mein Großvater zu sagen -, und bat ihn in seiner Sprache, uns den Raum zu öffnen. Tatsächlich leuchtete sein Blick auf, er erhob sich, holte die Schlüssel aus der Tasche und öffnete mit einer breiten Geste die Tür. Ich wusste, dass ich so schnell nicht wieder jene Orte besuchen würde und ich war froh, damals diese einmalige und sehr frühe Darstellung in Mosaik des bartlosen Christus zu bewundern. Was ich denn dem Pförtner geflüstert hätte, wollte ein westlicher Tourist wissen, der sich über den Wandel in der Gesinnung des Gastgebers wunderte. „Ich weiß es nicht“, antwortete ich, „aber es war wohl richtig.“

Den Rest des Urlaubs verbrachte ich auf Sithonia und träumte davon Athos besichtigen zu können. Am Strand schmiedete ich Pläne, in denen ich als Mann verkleidet vom Meer aus die Halbinsel erreichen würde. Dann würde ich mich von Kloster zur Einsiedlung und zum Stift schleichen und jene Kunstwerke betrachten, die Athos niemals verlassen haben. Ich frage mich, ob es heute möglich ist, mit der neuen Technologie, mittels einer Kamera an einer Live-Reise für alle, die Athos nicht betreten dürfen, teilzunehmen? Ob Athos Internet kennt? Dann könnten vielleicht  Kunsthistoriker von calaios.eu einmal hinfahren und für uns die Türen öffnen. Damals gab ich mich am letzten Tag meines Aufenthalts in Thessaoniki zufrieden mit dem Besuch der ersten Ausstellung in Griechenland, in der die „Schätze vom Berg Athos“ (1997) einer breiten Öffentlichkeit gezeigt wurden.

Der festen Gläubigkeit hingegen fielen nach der Wende in Rumänien einige Denkmäler zum Opfer. In so manchen Gegenden trugen die Bewohner alte Kirchen ab und ließen neue und „schöne“ an ihrer Stelle errichten. Ich war bereits im Westen, hörte hin und wieder von den verzweifelten Aufrufen von Kunst- und Kulturschaffenden vor Ort und konnte die Ereignisse nicht einmal mehr verfolgen. Ein anderer, anstrengender Alltag nahm mich mit in ein anderes Leben, weg von Byzanz. Das Los der Denkmale aber ist jener, anderer Werke der Menschheit ähnlich. Einiges bleibt erhalten, anderes wird zerstört, wenige werden gerettet, die meisten vergessen, umgebaut, dem Erdboden gleich gemacht. Für Kunsthistoriker bleiben Bruchstücke, Erinnerungen, Fragmente schriftlicher oder materieller Zeugnisse, Spolien und Palimpseste, aus denen eine vergangene Zeit mehr oder weniger realitätsgetreu  nachgezeichnet wird.

 

Kategorien
Allgemein Antike Bild und Abbild Denkmäler Europa Kunst Kunstgeschichte Museen Reise Unterwegs

Prinzregentenbrunnen / Brunnen in Augsburg (Serie)

„An der Wende zwischen Renaissance und Barock schufen die Künstler Hubert Gerhard und Adriaen de Vries drei Monuentalbrunnen, Bronzeplastik von italienischer Eleganz. Diese Brunnen wurden zur 1600-Jahr-Feier der Stadt entlang der heutigen Maximilianstraße, Augsburgs kaiserlicher Prachtstraße, und vor dem Rathaus aufgestellt.

Jedes Jahr zur Osterzeit werden die im Winter geschützten Brunnen aufgedeckt, und sie beginnen wieder zu fließen, rauschen, sprudeln und zu plätschern. Seit 1986 wird in Augsburg zur Sommerszeit ein Brunnenfest gefeiert. Dabei wird einer der drei Prachtbrunnen im wahrsten Winne des Wortes lebendig. Spätabends steigt der römische Kaiser Augustus von seinem Brunnensockel herunter, die vier Flußgötter erwachen zum Leben und vier kleine Putten treiben ihren Schabernack. Dieses getanzte Augustus-Traumspiel, von Fritz Kleiber geschaffen, begeistert stets Touristen und immer wieder auch die Augsburgerinnen und Augsburger.“

(Schad M., Brunnen in Augsburg. Fotografien von Helmut Müller. Bindlach 1992, S. 7)

In den 1990er Jahren saß ich an der Universität zu Köln in verschiedenen Seminaren zur Kunstgeschichte Westeuropas. Ich erinnere mich an eine Sitzung, in der ein Vortragender über die Brunnen in Augsburg referierte. Ich war mehr als nur erstaunt, ich war sprachlos. Wieso widmete man sich einem so nichts sagenden Themas, fragte ich mich. Ich wusste nichts über die Urbanistik in Deutschland und stellte mir vor, dass jede Stadt in Westeuropa mindestens ein Dutzend Brunnen wie Fontana die Trevi in Rom oder Fontaine des Mers auf dem Place de la Concorde in Paris haben müsste. Warum also eine Arbeit solch bescheidener Beispiele in einer kleinen Stadt in Bayern widmen?

Erst später verstand ich den Stellenwert der Brunnen in Augsburg und ich schätzte sie, erst als ich hierher zog. Dass solche Kunstwerke auch hierzulande nicht alltäglich sind, wurde mir nach und nach bewusst. Umso bedeutender also die drei Prachtbrunnen der Stadt. Im Juli 2019 wurde das weltweit einzigartige Wasserleit-System in Augsburg zum UNESCO-Welterbe ernannt. Zu dem Zeitpunkt kannte ich bereits die Bedeutung des Wassers für die Stadt an der Lech und an der Wertach und ich hatte auch schon viele der Brunnen gesehen.

Allein 36 Augsburger Brunnen stellte Martha Schad in dem o.a. Buch von 1992 vor.

September 2022 immer noch sehr warm und immer noch Corona. Ich gehe alle zwei Tage eine ältere Dame im Krankenhaus besuchen. Alle zwei Tage laufe ich bis zum Königsplatz, mache den Test und gehe damit und dann ab ins Diakonissenkrankenhaus über den Prinzregentenplatz. Zum ersten Mal nehme ich mir die Zeit, über die grüne Insel mit dem Brunnen zu gehen und fotografiere die Blumen. Gelb und Lila – im Komplementärkontrast, der mir am besten gefällt.

Der Brunnen ist wuchtig, hat einen hohen Becken und oben auf der Säule steht die Bronzefigur des bayerischen Prinzregenten Luitpold (1821-1912). Er hatte nach dem Tode König Ludwigs II. (1886) die Regentschaft übernommen, zu seinem 80. Geburtstag (am 12. März 1901) sollte der ihm gewidmete Brunnen fertiggestellt sein. Der Brunnen wurde vom Münchner Bildhauer Franz Bernauer (1861-1916) geschaffen und von August Riedinger (1845-1919) aus Augsburg gegossen. 1903 war er erst fertig, zur Einweihung kam der Sohn des Prinzregenten, Prinz Ludwig, der spätere und letzte bayerische König Ludwig III. (1845-1921).

(vgl.: Schad, Brunnen in Augsburg, 27. Der Prinzregentenbrunnen, S. 73.)

Ich blicke auf das – gemessen an den Dimensionen des Brunnens – relativ kleine Wassersprudel aus Delphinköpfen und schaue hinauf auf den ehemaligen bayerischen Herrscher. „Luitpold Prinzregent von Bayern“ steht auf dem Steinsockel, darunter in verkröpften Rundbogennischen in Hochrelief – die, von der Witterung zerfressenen Porträts der vier Könige von Bayern aus dem Haus Wittelsbach: Maximilian I. Joseph (1756-1825), Ludwig I. (1786-1868), Maximilian II. Joseph (1811-1864) und Ludwig II. (1845-1886). Der Prinzregent trägt einen schweren Mantel über der Tracht des Hubertusordens, wie ich später zu Hause einer Reiselektüre entnehme. Dort auf dem Platz ist es aber zu heiß, bei dem Anblick des Gewandes wird mir schwindlig. Ich blicke auf das erfrischende Wasser und verlasse die grüne Insel.

Bis zu dem Bett meiner zwischen Leben und Tod schwebenden, alten Dame, denke ich noch an den im Sommer wie im Winter schönen Königsplatz in München, an die Antikensammlung, an die Glyptothek, hier an manche der römischen Kaiser, denen die Brutalität und Verrücktheit bis heute ins Gesicht geschrieben steht: Caligula (12-41), Nero (37-68),  Domitian (51-96), Commodus (161-192), Caracalla (188-217)… Ich weiß nicht mehr, ob ich sie aus Büchern oder aus der Münchner Sammlung römischer Porträts kenne. Einige sind gewiss in der Glyptothek zu sehen. Kein erfreulicher Anblick.

Die Fahrstuhltür im Krankenhaus schließt sich. Ich bin mit einem negativen Test erfolgreich am Empfang vorbeigekommen, der Nachmittag gehört der Gegenwart und den damit verbundenen Sorgen.

Kategorien
Allgemein Bild und Abbild Digitales Bild Kunstgeschichte Museen Wandel

In eigener Sache / Nachtrag zur Magisterarbeit von 1998

Albrecht Dürer (1471-1528), Selbstbildnis im Pelzrock, 1500, Lindenholz; 67,1 cm x 48,9 cm; München, Alte Pinakothek, Inventarnr. 537.

https://www.sammlung.pinakothek.de/de/artwork/Qlx2QpQ4Xq/albrecht-duerer/selbstbildnis-im-pelzrock

In seinem Selbstbildnis von 1500 hat Albrecht Dürer sich ähnlich wie Christus dargestellt und damit eine nicht von Menschenhand gemachte Ikone nachempfunden. Zugleich hat er sich selbst in allen Details abgebildet und es ist heute noch so, als wäre er auf der Tafel lebendig. Er hat die Aura des Abbilds der Ostkirche zusammengelegt mit Aura des Abbilds der Renaissance in einem Selbstbildnis. Genial! Ich muss zugeben, ich habe das bisher nicht gesehen… Sorry!

Kategorien
Allgemein Bild und Abbild Collage Denkmäler Digitales Bild Kunst Kunstgeschichte Museen Reise

Die Welt im 17. Jahrhundert / unterwegs (Serie)

Eine Weltkarte von 1651 zeigt die Welt aufgeteilt in zwei kreisrunde Hälften. Die eine enthält die beiden Amerika umgeben von Mar del Nort im Osten und Mar del Zur im Westen (geteilt in Ocean of Peru und Pacific Sea), die andere – Europa, Asien, Afrika und das südliche damals noch nicht bekannte Land mit Westerne Ocean, Indian Sea, Atlanticke Sea, Chinensis Ocean und oben im Nordosten Tartarian Sea. Der Äquator ist angegeben, die beiden Pole, die Klimazonen: South Frozen Zone, Temperate Zone, Torride Zone und Nord Frozen Zone. Die imaginären Linien – Meridiane und Parallelen – sind ebenfalls aufgezeichnet. In den beiden Kreisen sind neben den zahlreichen, bekannten Orten auf den Erdteilen noch einige Kartuschen mit historischen Daten eingetragen.

In den beiden unteren Ecken der Karte werden Mond- und die Sonnenfinsternis erklärt, dazwischen sind die (männlichen) Allegorien von Feuer (mit Salamander) und Luft (mit Vögel) links und rechts von der südlichen Hemisphäre mit Sternbilder dargestellt. Am oberen Rand umrahmen die (weiblichen) Elemente Wasser und Erde die nördliche Himmelshalbkugel, in der linken oberen Ecke werden die Elemente des Himmels als ein großer Kreis mit vielen konzentrischen Kreisen gezeichnet: In der Mitte ist die Erde umgeben von Luft und Feuer, es folgen die Bahnen von Mond (Silber), Merkur (Quecksilber), Venus (Kupfer), Sonne (Gold), Mars (Eisen), Jupiter (Zinn), Saturn (Blei). Diese werden umgeben vom achten Himmel (Sternzeichen), danach vom neunten, kristallinen Himmel und schließlich dem zehnten und ersten „beweglichen“ Himmel. In der rechten oberen Ecke gibt es eine Kugel, die die Form der See wiedergeben soll. Die Karte enthält noch kleine Medaillons mit den Porträts von dem Seefahrer Ferdinand Magellan (1480-1521), von Oliver van Noort (1558-1627), dem ersten Niederländer, der die Welt umsegelte, von dem englischen Freibeuter und Entdecker Francis Drake (1540-1596), schließlich von dem dritten Weltumsegler und Korsaren Sir Thomas Cavendish (1560-1592).

All dieses Wissen im 17. Jahrhundert muss man sich wahrscheinlich vor Augen führen, wenn man die Kunst der damaligen Zeit bespricht. Dieses Ineinandergreifen von Geschichte, Geographie, Astronomie, Astrologie, Alchemie wurde in manchen Gemälden gefeiert. Ein Maler wie Jan Vermeer van Delft (1632-1675) wird viel von diesen Entdeckungen und Erfahrungen gekannt haben. Sicherlich hatte er Kenntnisse der Geometrie, Arithmetik, der damaligen Physik, aber auch dieser zahlreichen Karten mit den Darstellungen der bekannten Welt. Ein Universum, das schwer auseinander zu nehmen ist, und viel aussagt, über die weiten Denkräume des Künstlers, der den Alltag seiner kleinen Welt abgebildet hat.

Piraten wurden verfolgt und wurden gefeiert. Feuer, Luft, Wasser und Erde hatten neben den Eigenschaften, die Tag für Tag verwendet wurden, übernatürliche Kräfte in einer Welt, die voller Entdeckungen und trotzdem voller Geheimnisse war. Sterne wiesen nicht nur Seefahrern den Weg sondern den Menschen im Leben. Es wurde berechnet, studiert, geprobt und orakelt. Doch die bekannte Welt wurde immer größer. Man kannte Kalifornien schon, wo Francis Drake abstieg, das dicht besiedelte Peru, Afrika war recht gut bekannt, sowie Asien. In Westeuropa gab es England, Irland, Schottland, Norwegen, Spanien, Frankreich, Deutschland und Italien, daran grenzte im Osten Ungarn, Slavonien, Griechenland, das Baltikum. Frankfurt a.M. war Zentrum des als Germania bezeichneten Landes und es war umgeben von Cöln, Hamburg, Stettin, dann Prag, Wien, Basel, Genf, Antwerpen und Amsterdam. Die Entfernungen waren andere: zwischen Frankfurt und Venedig lag nur noch Basel; zwischen Paris und Marseille – nur Lyon.

Als ich jung war, träumte ich davon, Unterwasserarchäologie zu studieren und auf Schatzsuche in die Meere dieser Welt zu reisen. Der Traum endete, als ich erfuhr, dass man als Taucher*in eher mit Einsätzen für die Kripo als mit Schatzfunde Geld verdient. Ich wusste nicht viel über das 17. und 18. Jahrhundert, aber viele der damals zwischen den Kontinenten gefahrenen Güter, könnten auf dem Boden der Ozeane liegen, dachte ich.  Wie die Decke des Schaezlerpalais‘ in Augsburg auch zeigt, waren es bestimmt Gold und Edelsteine, teure Tuchwaren, Lebensmittel und Gewürze, Steingut und Töpferwaren, schließlich Geld jene Waren, die auf Schiffen transportiert und mit denen gehandelt wurde. Schon möglich, dass manches bei Unwetter auf hoher See oder bei Angriff von Freibeutern verloren ging.

Im vergangenen Jahr fand im Schaezlerpalais zwischen dem 20. Mai und dem 11. September eine Ausstellung mit dem Titel „Pax & Pecunia. Kunst, Kommerz und Kaufmannstugend in der Augsburger Deckenmalerei“ statt. Guglielmis Fresko im Festsaal des Stadtpalastes wurde auch besprochen und es wurde an mehreren Stellen hervorgehoben, dass das  Augsburger Bürgertum Wert darauf legte, den internationalen Handel als Tätigkeit zwischen gleichgestellten Partnern erscheinen zu lassen. Wie auf einem modernen Olymp, aus dem die alten Götter vertrieben wurden, sitzen die drei Kontinente um Europa herum an der Decke des Schäzlerpalais‘. An einem Ende des Gemäldes – Asien und Afrika, an dem anderen – Amerika, so getrennt fast wie auf der Karte von 1651. Die geographische Lage wurde hier nachempfunden, die exotischen Tiere, die die Frauenallegorien begleiten, wurden genaustens abgebildet, alles deutet auf eine gute Kenntnis von der Welt jenseits von Europa hin. Die Rolle des internationalen Handels ist in diesem Fresko Reichtum zu verteilen. Nichts trübt diese Darstellung der neuen Welt und damit auch nicht die Zuversicht des Hausherrn.

„Im Gesamtkonzept des Rokokosaales mit seinen Zyklen der Monate, Jahreszeiten und Tierkreise erscheint die dekorative Erdteildarstellung als gezielter Versuch des Bauherren, im Dekorationsprogramm wie auch durch den Bau auf Pracht, Wohlstand und Ansehen seines Hauses und die internationale Spannweite seines Geschäftes hinzuweisen.“

(Schaffer S.C., Der unter Europa florierende Handel. In: Pax & Pecunia. Kunst, Kommerz und Kaufmannstugend in der Augsburger Deckenmalerei. Imhof Verlag, Petersberg 2022, S. 95.)

Kategorien
Allgemein Antike Bild und Abbild Collage Denkmäler Europa Kunst Kunstgeschichte Museen Nicht verpassen Reise Unterwegs

Im Schaezlerpalais / unterwegs (Serie)

Die Kerzen sind erloschen, die Spiegel verbreiten kein warmes Licht mehr in den Raum. Das Festsaal des Schaezlerpalais‘ ist im kalten Licht des anbrechenden Morgens getaucht, der Ball ist lange zu Ende, aber der Duft von Puder und Echt Kölnisch Wasser liegt noch in der Luft. Das aus Ölen von Zitrone, Orange, Bergamotte, Mandarine, Limette und Zeder in Köln entwickelte Parfüm ist schon einige Jahre auf dem Markt und auch nach dem Tod seines italienischen Erfinders, Johann Maria Farina (1685-1766), überall sehr beliebt. Die eine Tür zum Saal fällt ins Schloss und man hört die gleichmäßigen Schritte des Dieners, der sich durch die anschließende Enfilade entfernt. Es ist der Morgen des 29. April 1770 und der große Raum wird der Stille überlassen.

Am Tag zuvor besuchte die Erzherzogin Maria Antonia von Österreich (1755-1793) das neue Stadtpalais des Barons Benedikt Adam Freiherr von Liebert, Edler von Liebenhofen (1731-1810) und weihte den Festraum mit einem Ball ein. Die spätere Marie Antoinette machte auf ihrer Brautreise nach Frankreich in Augsburg Station und sollte ursprünglich in dem Rokokopalast übernachten. Nach Plänen des Münchner Hofbaumeisters Karl Albert von Lespilliez (1723-1796) wurde das Gebäude im Oktober 1765 begonnen und befand sich im Frühjahr 1770 in der letzten Bauphase. Nach verschiedenen Absprachen wurde entschieden, dass die Erzherzogin in der fürstbischöflichen Pfalz wohnen würde, was weitere diplomatische Verhandlungen nach sich zog. Schließlich „erging der Beschluss, die Dauphine würde sein (Lieberts, m.A.) Haus besuchen und den Saal mit einem Ball einweihen.“ (Vgl.: Kommer B.R., Das Schaezlerpalais in Augsburg. München u.a. 2003, S. 16.)

Über 400 Kerzen sollen den Raum erleuchtet haben, die Prinzessin ließ sich auf einem großen Sessel (das einzige Sitzmöbel) vor dem hinteren Kamin nieder. Ein Orchester aus über 24 Mitglieder soll musiziert, Maria Antonia soll fünf bis sechs Tänze mit Kavalieren ihrer Suite getanzt haben. Nach einer Stunde zog sie sich zurück, das Fest ging aber noch eine Stunde weiter. „Vielleicht lag das an den reichlich angebotenen Erfrischungen: Die ganze Zeit über ließ von Liebert Tee, Kaffee, Punsch, Mandelmilch, Bavaroise und Konfekt reichen, Lieferungen der k.u.k. Hof-Konditorei. (Vgl. Kommer 2003, S. 12-13.)

Der Blick des in einer Rüsche des Sessels vergessenen Gastes folgt, wie oben gesagt, am Morgen des Folgetages dem Duft des Parfüms und bleibt an dem großen Deckengemälde haften. Es ist ein Porträt in Miniatur des französischen Pastellmalers Joseph Vivien (1657-1734) von Joseph Ferdinand von Bayern (1692-1699), dem früh verstorbenen Sohn von Maria Antonia von Österreich (1669-1692) und Maximilian II. Emanuel von Bayern (1662-1726). Das kleine Bildnis Joseph Ferdinands, der einst nach Wunsch seines Vaters die Nachfolge der spanischen Monarchie antreten sollte, zierte eine Puderdose aus Schildpatt, die sich im Nachlass Max II. Emanuels befand und auf Umwegen in den Besitz seiner Großnichte, der Erzherzogin Maria Antonia, gelang. Gut möglich, dass die erschöpfte Prinzessin, nach dem Tanz eines Menuetts, das Schmuckstück im Augsburger Palais unachtsam fallen ließ.

Auf jeden Fall blickte nun das Abbild des kleinen Prinzen aus seiner goldenen Einfassung auf das Deckengemälde mit Merkur und dem Welthandel, das 1767 der italienische Freskenmaler Gregorio Guglielmi (1714-1773) gestaltete. Es hatte in seiner Reise durch europäische Höfe schon verschiedene Kunstwerke gesehen, nicht zuletzt das Portrait seiner Großmutter mütterlicherseits, Margarita Theresa von Österreich, Infantin von Spanien (1651-1673), im Alter von fünf Jahren in dem Gemälde „Las Meninas“ (1656) von Diego Velázquez (1599-1660). Es erinnerte sich an den Spiegel und an den Durchgang im Gemälde, an den Prunk und dem Gefolge der Infantin und selbst an das Selbstbildnis des Malers.

Der Blick des Kindes aus dem Miniaturbild suchte die Gestalten auf der Decke ab, in der Hoffnung einem versteckten Bildnis des Malers zu begegnen. Gregorio Guglielmi hatte sich aber in dem Festsaal des Schaezlerpalais‘ nicht verewigt. Der Junge kannte seine Art zu malen schon von dem Deckengemälde der Großen Galerie in Schloss Schönbrunn. Er hatte ihn auch am Tag zuvor in einem Stich von vor zwei Jahren 1768 gesehen. Der Stich, der in Augsburg entstand und anlässlich der Feierlichkeiten um die Einweihung des Stadtpalastes in Umlauf war, zeigte Guglielmi nach einem Selbstbildnis  mit Perücke, seidener Haarschleife und Spitzenhalstuch auf der Höhe seiner Karriere. „Peintre en Histoires tres Celebres, nè à Rome Le 13. Decembre 1714“, stand unter dem ovalen, schmucklosen Ausschnitt. (Bildquelle: wikipedia, Beitrag über Gregorio Guglielmi, deutsch, RP-P-1907-1390, 26.02.’23.)

 Im Haus des Barons von Liebert hatte der italienische Maler eine Weltreise um die vier Erdteile imaginiert (Australien erst seit 1770 in Europa bekannt). Europa, umgeben von Afrika, Amerika und Asien legten unter dem Zauberstab des Merkur ihren Reichtum aus und glänzten um die Wette in prunkvoller Ausstattung.  Eine spätere Beschreibung des Freskos lohnt für uns die Aufmerksamkeit, weil sie ins Detail geht und der Pracht der Darstellung gerecht wird:

„Auf Wolken thront eine Frau, Europa, in weitem, weißen, goldgesäumten Gewand. Eine breite, goldene Schärpe läuft über ihre linke Schulter. Im Haar trät sie ein Diadem aus Lorbeerzweigen, über ihr schwebt ein Putto und hält einen Kranz aus zehn Sternen über sie. Mit ihrer Linken fasst Europa ein Szepter und einen Reichsapfel aus Gold, mit der ausgestreckten Rechten weist sie auf ein teilweise von einem blassroten Tuch überdecktes Arrangement aus Gesetzestafeln, Büchern, einem Himmelsglobus und Attributen der Künste (Musik, Architektur, Malerei). Darauf sitzt ein nackter Putto stützt eine Tafel, schultert ein Liktorenbündel und blickt zu seiner Herrin. Zwischen den beiden werden schemenhaft noch zwei Putti sichtbar. Die Szenerie belebt eine weitere Gestalt: Eine geflügelte, posaunenblasende Frau in lilafarbenem Lendentuch und hellblauem Mantel stürzt nach unten: Fama, lorbeerbekränzt, verkündet den Ruhm Europas und gewiss auch des Hauserbauers, Empfängers von Orden und Ehrenmedaille in ihrer ausgestreckten rechten Hand.

Rechts von Europa erblickt man zwei nackte, blonde Putti – einer wendet sich um und greift in die zur Seite wehende Schleppe seiner Herrin -, dann einen unbekleideten alten, weißhaarigen Mann mit Bart und Flügeln. Er lagert, sich abstützend, auf einem großen, gelben Tuch und betrachtet ein aufgeschlagenes Buch: Chronos, Gott der Zeit, liest Datum (1767) und Signatur (Guglielmi pinx(it)) des Schöpfers des Deckenbildes. Neben ihm, noch auf dem Tuch, erkennt man Fahnen, Waffen, einen Helm, eine Kanone, die Instrumente, mit denen die Beherrscherin der Welt den Frieden erhält oder wiederherstellt, reichen Recht, Gesetze, Ordnung allein nicht aus. 

Europas Regiment lässt buchstäblich Blumen erblühen, Früchte reifen (zu Füßen des Chronos), Wohlstand wachsen. Diesen auszuteilen, schwebt Merkur herab. Flügel an den Füßen, Flügelhut und Heroldsstab kennzeichnen ihn als Boten und Handelsgott. Er trägt nur ein lila Lendentuch. Den dekorativen grünen Mantel lässt er in seiner Eile flatternd hinter sich. Locker umfasst er das Füllhorn; ein Strom von Goldmünzen ergießt sich daraus.

Der vom Handel erwirtschaftete Reichtum stammt aus der ganzen Welt. Deshalb umgeben die drei anderen Erdteile Europa. Wendet man sich der hinten sich entfaltenden Szenerie zu, erkennt man rechts Asien.

Zentralgestalt ist eine über dunklem Gewölk auf rotsamtenem, spitzenbesetzten Polster mi gekreuzten Beinen sitzende Frau – kokett schaut ein spitzer Schuh hervor. Sie trägt über einem weißen Hemd ein tief dekolletiertes gelbes Gewand, das eine Brust frei lässt, und eine betresste, pelzgesäumte, kurzärmelige rosa Jacke. Ein blauer Mantel mit Goldornamenten umwallt sie majestätisch, auf dem Haupt sitzt ein phantastischer fezartiger Kopfputz, geschmückt mit edelsteinbesetztem Kronreif, Perlen, Bändern, juwelenbestückter Agraffe und goldener Mondsichel. In ihrer ausgestreckten rechten Hand – am Gelenk prangt ein doppeltes Perlband – bündelt sie vier Kronen und zwei Szepter: Asia tritt als orientalische Herrscherin auf, vielleicht als Personifikation des Osmanischen Reiches.

Rechts assistieren zwei prächtig ausstaffierte Hofdamen, die eine mit einem Pfauenwedel, die andere eine Perlenkette präsentierend. Von der anderen Seite kommt ein Kamelreiter in brauner Tracht und Mutze mit einem Zuckerrohrbündel im Arm herbei. Tief vom Sattel herunter wallt ein blauweiß gestreiftes Seidentuch. Er ist nicht allein, sondern begleitet von einer schwarzhäutigen Person mit Goldschmuck im Haar. Zu sehen ist nur der Kopf.

Zwei Sitzfiguren runden die Komposition ab. Die rechte, mit unbekleidetem Oberkörper, sonst in ein braunrotes Tuch gehüllt, hält eine blaue (Porzellan?)Vase im Schoß. Die streng nach hinten gekämmte Frisur charakterisiert sie als Chinesin. Die zweite, auf einem braunen Tuch sitzend und sich auf ein umgestürztes Gefäß stützend, aus dem Wasser fließt, ist ein nackter Mann mit dunklem Teint. Er mag Indien verkörpern und insbesondere den Gangesfluss. Zur Betonung der Exotik kriecht unten unter dem Wasserstrom ein Krokodil über einen spärlich bewachsenen Hügel.

Links von Asien, kaum davon getrennt, folg auf derselben Wolkenbank die Darstellung Afrikas. Wichtigste Figur ist eine sitzende schwarze Dame. Sie trägt nur einen weißen Rock mit breiter Goldborte und edelsteinbesetztem Fürtel, wird aber lose von einer ins Lila changierenden Draperie umhüllt. Kokett streckt sie ihr gewinkeltes linkes Bein vor und lässt die goldene Sandale mit Schnüren sehen. Auch sonst demonstriert sie ihre herrscherliche Stellung: Am ausgestreckten linken Arm, mit dem sie auf ein kauerndes Leopardenpaar zeigt, prangt oben ein breiter Goldreif. Außerdem trägt sie Perlenohrringe und einen edelsteingeschmückten Kronreif mit Federschmuck.

Ein auf dem Boden liegender geöffneter Fächer und ein zweiter geschlossener verweisen auf das heiße Klima des schwarzen Kontinents. Deshalb ist Schutz vor der Sonne nötig. Ihn bietet ein großer gelber Schirm mit weißer Unterseite, hängenden Lambrquins und krönenden Straußenfedern. Lässig umfasst ihn die afrikanische Königin, ist er doch gleichzeitig Hoheitszeichen. Natürlich gebietet sie über Gefolge. Zu ihm gehört ein Krieger, der, gehüllt in ein Fell, mit eingelegtem Speer zwei Strauße jagt. Ziel sind die geschätzten Federn. Den weiblichen Part übernimmt eine als Rückenakt gegebene sitzende Frau. Eine Goldkette und Federn im Haar zeichnen sie aus. Effektvoll vor einer grünen Draperie postiert, besieht sie einen Elefantenstoßzahn (=Elfenbein), kostbar wie Gold.

Um Amerika zu betrachten, muss man sich umwenden. Die Komposition zum Thema Neue Welt beansprucht den vorderen, östlichen Freskoabschnitt. Die Szenerie entwickelt sich über zwei Bögen in einer mit Bäumen und Büschen bewachsenen Felsenlandschaft. Auf dem kargen vorderen Felsen oder Erdhaufen ist ein nur spärlich mit einem Lendentuch bekleideter Goldgräber postiert. In der Rechten präsentiert er einen großen Goldklumpen, mit der ausgestreckten Linken stützt er sich auf eine Spitzhacke. Vor ihm liegt eine Schaufel, links erblickt man zwei weitere, nicht näher zu identifizierende Geräte.

Die größere, in verschiedenen Grautönen gehaltene Felsformation ist Sitz eines indianischen Damentrios. Am wichtigsten ist die barbusige Kriegerin neben dem aufragenden Baum. Ein blauer Mantel ümhüllt sie so lose, dass ein weißes Röckchen sichtbar wird. Demonstrativ hält die Idianerin in der Rechten einen Bogen, links stützt sie sich ab. Auf dem Rücken trägt sie den wohlgefüllten Köcher – das Band läuft quer über die Brust -, auf dem Kopf einen Federschmuck über goldenem Reif. Während sie nach rechts ins Ungewisse blickt, sehen die Begleiterinnen zu ihr auf.

Bevor der Fels jäh ins Wasser abstürzt, findet sich noch Platz für einen nackten Meergott vor dunkler, knapper Draperie. Aufgeschreckt fliegen zwei Kraniche über ihm auf. Neben einem Wasserfall posierend, wendet sich der weißhaarige und -börtige Herrscher des Ozeans zur Seide der indianischen Königin, doch ohne sie anzublicken. Zum Zeichen seiner Würde trägt er die goldene Zackenkrone, in seiner Linken den Dreizack. Rechts präsentiert er Muscheln wie ein Geschenk. Korallen, Perlen, ganze Ketten quellen heraus. Neptuns Gaben sind für das ankernde Segelschiff bestimmt. Hoch ragt das Achterkastell mit dem von Löwen gehaltenen Midici-Schild auf, wohl eher eine Huldigung an Maria Theresia, Großherzogin-Witwe der Toskana, und an den Sohn Leopold, regierenden Fürsten, als ein Hinweis auf den Florentiner und Nabensgeber des Kontinents, Amerigo Vespucci. Fahne und Laterne sind über dem Wappen aufgesteckt.

Ein rauchender Matrose sitzt auf einem herabwehenden, gestreiften Tuch. Seine Arbeit wird bald beginnen, noch sind auf die Schiffssegel eingerollt. Vielleicht ist das Ziel Livorno, wichtigster Ein- und Ausfuhrhafen der Toskana für Edelmetalle, einer der Orte, wo von Liebert in habsburgischem Interesse gewinnbringenden Silberhandel betrieb.“ (Vgl. Kommer 2003, S. 62-68.)

Ein kräftiger Windstoß ließ im leeren Festsaal die Falten des Seidentuchs auf dem Sessel flattern. Die Puderdose fiel mit leichtem, hellem Geräusch aufs Parkett. Die Eingangstür öffnete sich, ein Diener ging schnellen Schrittes durch den Raum und schloss die Fenster. Er hob die Dose auf und verschwand wieder hinter der mit schwerem Samt behangenen Tür. Es heißt, die Puderdose sei an Maria Antonia zurückgegeben worden, die gleich am Morgen des 29. April 1770 ihren Verlust beklagte. Nach der Französischen Revolution (1789) oder während ihrer Wirren kam das kostbare Objekt in eines der Museen Frankreichs und ist in den Sammlungen unter gegangen. Vielleicht ruht es in einem der Depots aber vielleicht ist es auch irgendwo ausgestellt. Um das herauszufinden, muss man natürlich nach Frankreich reisen.

Kategorien
Allgemein Antike Bild und Abbild Collage Denkmäler Kunst Kunstgeschichte Museen Reise Unterwegs

Im Römischen Reich / unterwegs (Serie)

Wenn ich so zurückdenke, habe ich eigentlich – bis auf die fünf Jahre in München Anfang des neuen Jahrhunderts – die Grenzen des römischen Reichs nie verlassen. In der ehemaligen Provinz Dakien (von 106 n.Chr. bis 270er Jahre n.Chr.) geboren, war ich einige Jahre in der Colonia Claudia Ara Agrippinensium (Köln, gegründet 50 n.Chr.) zu Hause. Danach habe ich zwei Jahre in Lugdunum (Lyon, gegründet 43 v.Chr.) gelebt und nach dem anschließenden und vorübergehenden Aufenthalt in München, zog ich nach Augusta Vindelicum (Augsburg, gegründet 15 v.Chr.). Hier wohne ich seit 2007.

In Bukarest gab es keine antiken Funde im Stadtbild, die an das alte Rom hätten erinnern können oder ich habe sie vergessen. Es gab einige Orte, an denen die römische Vergangenheit zelebriert wurde. Wie der Römische Platz im Zentrum der Stadt, an dem eine Kopie der Kapitolinischen Wölfin, ein Geschenk der Stadt Rom, aufgestellt war. Daran ging ich in meiner Schulzeit täglich vorbei. Als ich mich später für die Aufnahmeprüfung an der Akademie der Kunst in Bukarest im Fach Kunstgeschichte vorbereitete, lernte ich, die Wölfin sei Sinnbild der Stadt Rom, eine Arbeit etruskischer Meister aus dem 5. Jahrhundert v.Chr., die Kinder Romulus und Remus – in der späteren Renaissancezeit eingefügt. Heute wird die Bronzeskulptur ins Mittelalter, zwischen dem 9. und dem 13. Jahrhundert, datiert. Jahre später traf ich die Statue wieder in einer Variante in Stein am Römerbrunnen in Köln.

Als ich 1990 das erste Jahr Studium der Kunstgeschichte hinter mir hatte, ging es ins Praktikum nach Capidava (gegründet 1. Jhdt. n.Chr. als Wehranlage der Moesia inferior), einer antiken Ausgrabungsstätte an der Donau. Unter der Leitung unseres damaligen Professors für Archäologie, Radu Florescu (1931-2003), hoben wir „oben“ auf der einst abgebrannten römischen Burg neolithische Spuren aus. Oder wir arbeiteten schwer mit dem Spaten „unten“ im Hafen, der bis auf die Grundmauern ausgegraben werden musste. Nachmittags fügten wir Scherben von alten Töpferwaren zusammen und freuten uns über jeden Erfolg, wenn zwei oder drei Scherben zusammenpassten.

Von der Ausgrabungsstätte blickte man auf die Donau einerseits und andererseits auf eine Straße, die sich über die Hügel Richtung Horizont schlängelte. Selten fuhr ein Auto entlang und wir blickten so ins Nichts während vom Radio das damals neue oft ausgestrahlte Lied von Chris Rea (* 1951) „The Road to Hell“ (1989) hörten und das Refrain nachsummten. Hätte ich den Entschluss auszuwandern, nicht erfasst, so hätte ich mit Sicherheit noch viele Ferien meines Lebens in dem Ort verbracht, der mir in nur einem Sommer ans Herz gewachsen ist.

 

Ich beschränkte mich aber darauf, einige Keramikscherben und einige Steine als Erinnerung mitzunehmen. Diesen Brauch behielt ich längere Zeit und sammelte immer kleine Fundstücke von Reisen in den Mittelmeerländern. Die Teile sind inzwischen nicht mehr genau zuzuordnen. Ob aus der Dobrudscha, aus Griechenland, aus Italien oder aus Frankreich, die Souvernirs von ehemaligen Stätten römischer Zivilisation bilden heute einen kleinen Schatz an Memorabilia. Trotz fester Versprechen und eisernen Willens an diese Orte zurückzukehren, habe ich so gut wie nie zwei Mal den gleichen Strand am Mittelmeer betreten und die antiken Ruinenstädte auch nur ein Mal besucht. Getrieben von der Hast nach immer neuen Sehenswürdigkeiten im kulturreichen Europa vergaß ich beruflich dorthin zurückzukehren, wo einst alles begann, ans Mittelmeer. Es blieb bei den gelegentlichen Urlaubsreisen, bei Fotos und einigen Erinnerungsstücken.

Ein knappes Jahrzehnt später sitze ich tagsüber auf den breiten Stufen des römischen Theaters in Lyon und blicke bei klarem Wetter auf den Mont Blanc, der am Horizont erscheint. Wenige Touristen steigen auf und ab und probieren, ob man ganz oben in den Rängen das Flüstern auf der Bühne hört. Die Zeit war knapp, als ich Lyon wohnte. Ich habe leider an keinem der Schauspiele teilgenommen, die während der Sommerzeit entweder im Theater oder im angrenzenden Odeon aufgeführt wurden. Ich erinnere mich nur an Spaziergänge auf der Anhöhe der beiden Bühnen und an das Schauspiel des Himmels und des Lichts jedes Mal anders, als ich dort war.

Bei einer Aufführung war ich hingegen im antiken Theater vom benachbarten Vienne. Laut Wikipedia soll der Name der Stadt von einer „Via Gehenna“, einem „Weg zur Hölle“ kommen. An einem Sommerabend des Jahres 2001, während der alljährlich stattfindenden Jazzkonzerte dort, sah ich und hörte Paco de Lucia (1947-2014) Gitarre spielend. Das Publikum war begeistert und überhäufte ihn mit Applaus als von der Bühne die Klänge des bekannten „Friday Night in San Francisco“ aufstiegen. Das 1980 uraufgeführte und 1981 aufgenommene Stück spielten damals neben Paco de Lucia, Al Di Meola (* 1954) und John McLaughlin (* 1942).

In Vienne gibt es auch neben einem Tempel (1. Jhdt. v.Chr.) des Augustus (63 v.Chr. – 14 n.Chr.) und der Livia (58 v.Chr. – 29 n.Chr.) – auf der anderen Rhône-Seite – eine Siedlung namens Saint-Romain-en-Gal, wo 1967 ein ehemaliges römisches Villenviertel ausgegraben wurde. Seit Mitte der 1990er Jahren steht da ein Museum mit lichter Architektur, dessen kostbarste Ausstellungsstücke Fußbodenmosaike sind. Eines davon (Ende 3. Jhdt. n.Chr., 7 m x 5,20 m) wurde Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt und stellt den mythischen König Thrakiens, Lykurg, dar, der den Mut hatte, sich Bacchus entgegenzustellen. Als ihm Rhea zur Strafe den Verstand nimmt, tötet Lykurg im Weinrausch seinen Sohn Dryas in der Annahme, er sei ein wuchernder Rebstock. Die Darstellung des thrakischen Königs inmitten des bedrohlich anmutenden Rankenwerks ist einmalig und suggeriert wie kein zweites den Rausch, in dem die blutige Tat vollbracht wurde. Apsisförmig endet das Mosaik im oberen Bereich mit Figuren des Bacchus, Pan und der Bacchanten, die Lykurg bedroht hatte.