Jeden Morgen fahre ich mit der Straßenbahn Nr. 4 in die Arbeit. Ich wohne in Augsburg Oberhausen Nord und während der Fahrt vom Eschenhof zu der Wertachbrücke begleiten mich Gedanken zur Stadtgeschichte. Ich wähle mir mit dem Blick durch die breiten Fenster wechselnde Orte und Gebäude, die auf dem Weg liegen, und lasse Bruchstücke Augsburger (deutscher, bayerischer und europäischer) Geschichte vor dem inneren Auge passieren. Jedes Mal weckt das mein Bewusstsein in Europa zu leben und jeder Schritt auf dem Asphalt bestätigt mein Dasein.
Ich steige an einer Straßenbahnstation ein vor dem Eschenhof, eine 1928 vom Stadtbauamt (Architekt Otto Holzer) errichtete viergeschossige quadratische Wohnanlage. Gerade habe ich die Siedlung an der Schönbachstraße verlassen, deren süd-westlichen Wohneinheiten durch Torbögen miteinander verbunden sind. Zwei Rundplastiken stellen gegenüberstehende Löwen dar, die zwischen ihnen ein Schlild mit den Jahreszahlen 1929 und 1930 halten. Die Anlage hat ihre ursprüngliche Sachlichkeit erhalten, auch wenn in den 2000er Jahren Modernisierungen vorgenommen worden sind. Die Wohnblocks sind jetzt in Pastelltönen gefärbt, leichte Balkone sind den Seiten vorgelagert.
Anfang der 1930er Jahre wird der Eindruck viel strenger gewesen sein, ältere schwarzweiß Aufnahmen belegen die triste Umgebung. Die Wohnungsnot der damaligen Zeit war Ausgangspunkt der Baumaßnahmen und sicher war die streng geometrische Anlage der Augsburger Fuggerei – die Vorfahrin aller Sozialsiedlungen (zwischen 1516 und 1523 von Baumeister Thomas Krebs) – Vorbild und Maßstab der späteren Ausführung am Eschenhof. Die benachbarte Schönbachsiedlung ist 1946 als Notsiedlung entstanden und war in ihrer Gestaltung bis ins Detail von den Amerikanern geregelt. „Die wenigsten wissen allerdings“, schreibt Chr.R. Kreikle in dem Band „Augsburg zu Fuß“ von 1993 (Hrsg.: W. Kucera und R. Forster), „dass sich auf einem großen Teil der heutigen Schönbachsiedlung in der Nazizeit ein Zwangsarbeiterlager befand.“ (S. 215). Hinter den Bögen von 1929/30 standen also einst Wohnbauten, denen 1942 ein Lager folgte, das 1946 erneut von Wohnungen abgelöst wurde, die in den 2000er Jahren modernisiert wurden. Hier zog ich 2007 ein, als mich ein Arbeitsauftrag und finanzielle Not von München nach Augsburg brachten.
An München denke ich am Morgen oft auch. Wenige Kilometer weiter nördlich von meinem jetzigen Wohnort liegt das Autobahnkreuz Augsburg West die schnellste Verbindung zur A 8 Richtung München. Jeden Tag ziehen Pendlerautos auf der Donauwörtherstraße an meiner Bahnhaltestelle vorbei, andere Reisende steigen mit mir in die 4er Straßenbahn ein und fahren bis zur Endstation Hauptbahnhof. Für manche geht es dann weiter mit der Regionalbahn nach München, den Weg legte ich kurz nach meinem Umzug auch für ein paar Jahre zurück. „Das beste an Augsburg ist der Zug nach München.“ Der Satz, der Bertold Brecht (1898-1956) zugeschrieben wird, ging mir damals durch den Kopf, als ich Land und Leute wenig kannte und es an Augsburg noch einiges zu entdecken gab.
Zwei Haltestellen weiter bin ich an der Station Bärenwirt, die an dem Stadtteil Bärenkeller grenzt. Hier denke ich oft an dichte Wälder voller Wildtieren, römischer Soldaten, germanischer Stämme und an ein Gasthaus „Zum Bären“, das vielleicht hier einmal stand, ein Stück weit vom Eingang in die Stadt an der Wertach. Aber nein, so war es nicht! Selbst wenn nicht weit entfernt von meinen Phantasien, so sprechen Lexika und Bücher zur Stadt Augsburg von einer anderen Realität. Eine Brauerei „Zum Goldenen Bären“ soll hier vor mehr als 600 Jahren von Mönchen betrieben worden sein. Das Stadtteil selber ist erst 1932 entstanden und nach 1933 planmässig und ideologisch geprägt bebaut worden. Ein Stück Geschichte des NS-Regimes also und dessen Siedlungspolitik, wie des öfteren in den Städten des Landes.
Doch wie nicht anders bei Augsburg, einer Gründung des Jahres 15 v.Chr. aus der Zeit des römischen Kaisers Augustus zu erwarten ist, waren die Römer doch hier, im südlichen Oberhausen. Der Fund eines Grabsteins unweit der Straßenbahnhaltestelle Bärenwirt belegt das. „Das römische Grabmal zählt zu den bedeutendsten Funden der Antike, die man in der Augsburger Gegend gemacht hat; es soll das schönste römische Grabmal nördlich der Alpen sein. Das Monument wurde 1709 in drei Metern Tiefe (…) gefunden; über 100 Jahre überließ man es an der Hauptstraße den Witterungseinflüssen, bis es – auf einigen Umwegen – (…) seinen jetzigen Standort im Römischen Museum fand (…).“ (Kreikle, Wo es zum Himmel stinkt. In: Kucera/Forster, Augsburg zu Fuß, 1993, S. 209)
Auf der anderen Seite der Verkehrsknotenpunktes und der Wertach erstrecken sich die M.A.N.-Werke mit ihrer langen wechselhaften Geschichte. Ich denke hier manchmal bei meiner täglichen Fahrt in die Arbeit an die Biographie über Rudolf Diesel (1858-1913), geschrieben 1937 und neu aufgelegt 1983 von seinem Sohn Eugen Diesel (1889-1970): „Diesel. Der Mensch, das Werk, das Schicksal“, die ich als erstes las, als ich nach Augsburg umzog. Ich war damals ergriffen von dem aufregenden Leben des Erfinders, von seiner Zusammenarbeit mit Heinrich von Buz (1833-1918), dem Direktor der Maschinenfabrik Augsburg, von seinem rätselhaften Tod 1913 am Ärmelkanal. Später besuchte ich das kleine M.A.N.-Museum unweit vom heutigen Gelände der Werke und blieb beeindruckt von den dort ausgestellten schönen alten Druckmaschinen und den ersten Diesel-Fahrzeugen.
Meine Straßenbahn verlässt am Morgen recht schnell diese Orte und bringt mich zurück in die Gegenwart an die Wertachbrücke, wo ich umsteigen muss. Mein Blick bleibt kurz an der wehrhaften Mauer der evangelischen Kirche St. Johannes (errichtet 1930) haften, die nah an der Kreuzung liegt und ein architektonisches Ensemble mit der katholischen Kirche St. Josef (erbaut 1876-78) bildet. Es ist einer jener baulichen Zusammenschlüsse von evangelischen und katholischen Kirchen, die man in Augsburg, der Stadt des Religionsfriedens von 1555, auf Streifzügen mehrmals begegnet. Der Frieden des 16. Jahrhunderts zwischen Protestanten und Katholiken wird somit den Passanten wie in keiner anderen Stadt der Welt buchstäblich bei Schritt und Tritt in Erinnerinerung gebracht.
Ich bremse hier meine Gedanken, die mich über Kaiser Karl V. (1500-1558) an die Bildnisse seines Hofmalers Tizian (gest. 1576) in der Münchner Alten Pinakothek und im Museo del Prado in Madrid führen würden. Zu viele Bilder der großen europäischen Sammlungen, die im Gedächtnis nur auf einen Augenblick mangelnder Konzentration und darauf warten, meine Aufmerksamkeit zu erstürmen. Ich mache einen gedanklichen Rückzieher blende schnell Gent in Belgien, den Geburtsort des Kaisers, ein. Dort kann ich gedanklich lange in der Kathedrale St. Bavo (942 eingeweiht) vor dem Altar der Brüder Hubert (1370-1426) und Jan van Eyck (um 1390-1441) stehen bleiben und die Bilder, die ich ohne weiter zu denken nur bewundere, betrachten.
Inzwischen fährt mich eine Straßenbahn Nr. 2 über den Oberhauser Bahnhof mit seiner schlichten Architektur vom Beginn der 1930er Jahre, vorbei an das neu bebaute Areal der ehemaligen Reese-Kaserne, in der US-amerikanische Truppen in den Nachkriegsjahren bis 1993/94 stationiert wurden. Ein Stück deutsch-deutscher Geschichte, die hier geschrieben wurde, als im Zuge der Einheit die Alliierten das Land verließen und weite Teile der lokalen Wirtschaft dahinfegten. Ich fahre durch Kriegshaber, ein Stadtteil Augsburgs über dessen Bezeichnung die Fachleute streiten. Eine Theorie besagt, dass in der Römerzeit ein griechischer Söldner namens Avar („Krieche Avar“) hier in einer Schlacht gegen Kelten den Tod fand. Sprachwissenschaftler glauben, dass ein aus Rheinfranken eingewanderter Bauer namens „Chriech“ den Namen des Stadtteils gab. Schließlich besagt eine dritte Theorie, dass „Grieshaber“ den Boden hier bezeichnete (Sandboden, „Griesle“), auf dem nur Hafer (= haber) wuchs. (Vgl.: Kreikle, Stadtteil am Rand. In: Kucera/Forster, Augsburg zu Fuß, 1993, S. 200.)
Zwei Stationen bevor ich morgens am Universitätsklinikum / Bezirkskrankenhaus aussteige, passiert mein Weg eine alte Synagoge, die eng an der Straße gebaut wurde, nach 1945 in Vergessenheit geriet und 1985 „wiederentdeckt“ wurde. Sie blieb von den Zerstörungen der Nazis weitgehend verschont, hier gingen jüdische Gläubige zum Gebet nach der Zerstörung der Augsburger Synagoge 1938. Ich denke kurz an die schöne „byzantinische“ Kuppel der großen Synagoge in der Halderstraße in der Nähe des Augsburger Hauptbahnhofs, die heute auch ein Museum beherbergt. 1917 wurde sie im Jugendstil erbaut und „galt damals wie heute in Deutschland als einzigartig“. (Fischer R. unter Mitarbeit von Kaus K., Streifzug durch die Gründerzeit. In: Kucera/Forster, Augsburg zu Fuß, 1993, S. 90.)
Ich bin keine zwanzig Minuten eigentlich außerhalb der historischen Stadtmauern von Augsburg gefahren und habe an die Antike, die Nazi-Zeit, die Habsburger Monarchie, Amerika, Byzanz und vieles andere mehr denken müssen. Vieles verbindet sich mit der eigenen Biographie, manches bleibt immer noch verborgen. Jeder Weg durch den Alltag ist ein Weg durch Europa in seiner Geographie, Geschichte, Kunst, Kultur und Natur. Die letzten zehn Minuten zur Arbeitsstelle gehe ich zu Fuß durch eine künstlich angelegte Parkanlage auf der Rückseite des klobigen Gebäudes des Klinikums aus den 1970er Jahren. Nein, nein! Jetzt denke ich nicht an die historische Gartenarchitektur Englands und als Gegenpol an jene Frankreichs sondern gehe arbeiten! Nein! Jetzt bloß kein Versailles, kein Englischer Garten in München, kein Schleißheim, kein Nymphenburg….