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Prinzregentenbrunnen / Brunnen in Augsburg (Serie)

„An der Wende zwischen Renaissance und Barock schufen die Künstler Hubert Gerhard und Adriaen de Vries drei Monuentalbrunnen, Bronzeplastik von italienischer Eleganz. Diese Brunnen wurden zur 1600-Jahr-Feier der Stadt entlang der heutigen Maximilianstraße, Augsburgs kaiserlicher Prachtstraße, und vor dem Rathaus aufgestellt.

Jedes Jahr zur Osterzeit werden die im Winter geschützten Brunnen aufgedeckt, und sie beginnen wieder zu fließen, rauschen, sprudeln und zu plätschern. Seit 1986 wird in Augsburg zur Sommerszeit ein Brunnenfest gefeiert. Dabei wird einer der drei Prachtbrunnen im wahrsten Winne des Wortes lebendig. Spätabends steigt der römische Kaiser Augustus von seinem Brunnensockel herunter, die vier Flußgötter erwachen zum Leben und vier kleine Putten treiben ihren Schabernack. Dieses getanzte Augustus-Traumspiel, von Fritz Kleiber geschaffen, begeistert stets Touristen und immer wieder auch die Augsburgerinnen und Augsburger.“

(Schad M., Brunnen in Augsburg. Fotografien von Helmut Müller. Bindlach 1992, S. 7)

In den 1990er Jahren saß ich an der Universität zu Köln in verschiedenen Seminaren zur Kunstgeschichte Westeuropas. Ich erinnere mich an eine Sitzung, in der ein Vortragender über die Brunnen in Augsburg referierte. Ich war mehr als nur erstaunt, ich war sprachlos. Wieso widmete man sich einem so nichts sagenden Themas, fragte ich mich. Ich wusste nichts über die Urbanistik in Deutschland und stellte mir vor, dass jede Stadt in Westeuropa mindestens ein Dutzend Brunnen wie Fontana die Trevi in Rom oder Fontaine des Mers auf dem Place de la Concorde in Paris haben müsste. Warum also eine Arbeit solch bescheidener Beispiele in einer kleinen Stadt in Bayern widmen?

Erst später verstand ich den Stellenwert der Brunnen in Augsburg und ich schätzte sie, erst als ich hierher zog. Dass solche Kunstwerke auch hierzulande nicht alltäglich sind, wurde mir nach und nach bewusst. Umso bedeutender also die drei Prachtbrunnen der Stadt. Im Juli 2019 wurde das weltweit einzigartige Wasserleit-System in Augsburg zum UNESCO-Welterbe ernannt. Zu dem Zeitpunkt kannte ich bereits die Bedeutung des Wassers für die Stadt an der Lech und an der Wertach und ich hatte auch schon viele der Brunnen gesehen.

Allein 36 Augsburger Brunnen stellte Martha Schad in dem o.a. Buch von 1992 vor.

September 2022 immer noch sehr warm und immer noch Corona. Ich gehe alle zwei Tage eine ältere Dame im Krankenhaus besuchen. Alle zwei Tage laufe ich bis zum Königsplatz, mache den Test und gehe damit und dann ab ins Diakonissenkrankenhaus über den Prinzregentenplatz. Zum ersten Mal nehme ich mir die Zeit, über die grüne Insel mit dem Brunnen zu gehen und fotografiere die Blumen. Gelb und Lila – im Komplementärkontrast, der mir am besten gefällt.

Der Brunnen ist wuchtig, hat einen hohen Becken und oben auf der Säule steht die Bronzefigur des bayerischen Prinzregenten Luitpold (1821-1912). Er hatte nach dem Tode König Ludwigs II. (1886) die Regentschaft übernommen, zu seinem 80. Geburtstag (am 12. März 1901) sollte der ihm gewidmete Brunnen fertiggestellt sein. Der Brunnen wurde vom Münchner Bildhauer Franz Bernauer (1861-1916) geschaffen und von August Riedinger (1845-1919) aus Augsburg gegossen. 1903 war er erst fertig, zur Einweihung kam der Sohn des Prinzregenten, Prinz Ludwig, der spätere und letzte bayerische König Ludwig III. (1845-1921).

(vgl.: Schad, Brunnen in Augsburg, 27. Der Prinzregentenbrunnen, S. 73.)

Ich blicke auf das – gemessen an den Dimensionen des Brunnens – relativ kleine Wassersprudel aus Delphinköpfen und schaue hinauf auf den ehemaligen bayerischen Herrscher. „Luitpold Prinzregent von Bayern“ steht auf dem Steinsockel, darunter in verkröpften Rundbogennischen in Hochrelief – die, von der Witterung zerfressenen Porträts der vier Könige von Bayern aus dem Haus Wittelsbach: Maximilian I. Joseph (1756-1825), Ludwig I. (1786-1868), Maximilian II. Joseph (1811-1864) und Ludwig II. (1845-1886). Der Prinzregent trägt einen schweren Mantel über der Tracht des Hubertusordens, wie ich später zu Hause einer Reiselektüre entnehme. Dort auf dem Platz ist es aber zu heiß, bei dem Anblick des Gewandes wird mir schwindlig. Ich blicke auf das erfrischende Wasser und verlasse die grüne Insel.

Bis zu dem Bett meiner zwischen Leben und Tod schwebenden, alten Dame, denke ich noch an den im Sommer wie im Winter schönen Königsplatz in München, an die Antikensammlung, an die Glyptothek, hier an manche der römischen Kaiser, denen die Brutalität und Verrücktheit bis heute ins Gesicht geschrieben steht: Caligula (12-41), Nero (37-68),  Domitian (51-96), Commodus (161-192), Caracalla (188-217)… Ich weiß nicht mehr, ob ich sie aus Büchern oder aus der Münchner Sammlung römischer Porträts kenne. Einige sind gewiss in der Glyptothek zu sehen. Kein erfreulicher Anblick.

Die Fahrstuhltür im Krankenhaus schließt sich. Ich bin mit einem negativen Test erfolgreich am Empfang vorbeigekommen, der Nachmittag gehört der Gegenwart und den damit verbundenen Sorgen.

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Die Welt im 17. Jahrhundert / unterwegs (Serie)

Eine Weltkarte von 1651 zeigt die Welt aufgeteilt in zwei kreisrunde Hälften. Die eine enthält die beiden Amerika umgeben von Mar del Nort im Osten und Mar del Zur im Westen (geteilt in Ocean of Peru und Pacific Sea), die andere – Europa, Asien, Afrika und das südliche damals noch nicht bekannte Land mit Westerne Ocean, Indian Sea, Atlanticke Sea, Chinensis Ocean und oben im Nordosten Tartarian Sea. Der Äquator ist angegeben, die beiden Pole, die Klimazonen: South Frozen Zone, Temperate Zone, Torride Zone und Nord Frozen Zone. Die imaginären Linien – Meridiane und Parallelen – sind ebenfalls aufgezeichnet. In den beiden Kreisen sind neben den zahlreichen, bekannten Orten auf den Erdteilen noch einige Kartuschen mit historischen Daten eingetragen.

In den beiden unteren Ecken der Karte werden Mond- und die Sonnenfinsternis erklärt, dazwischen sind die (männlichen) Allegorien von Feuer (mit Salamander) und Luft (mit Vögel) links und rechts von der südlichen Hemisphäre mit Sternbilder dargestellt. Am oberen Rand umrahmen die (weiblichen) Elemente Wasser und Erde die nördliche Himmelshalbkugel, in der linken oberen Ecke werden die Elemente des Himmels als ein großer Kreis mit vielen konzentrischen Kreisen gezeichnet: In der Mitte ist die Erde umgeben von Luft und Feuer, es folgen die Bahnen von Mond (Silber), Merkur (Quecksilber), Venus (Kupfer), Sonne (Gold), Mars (Eisen), Jupiter (Zinn), Saturn (Blei). Diese werden umgeben vom achten Himmel (Sternzeichen), danach vom neunten, kristallinen Himmel und schließlich dem zehnten und ersten „beweglichen“ Himmel. In der rechten oberen Ecke gibt es eine Kugel, die die Form der See wiedergeben soll. Die Karte enthält noch kleine Medaillons mit den Porträts von dem Seefahrer Ferdinand Magellan (1480-1521), von Oliver van Noort (1558-1627), dem ersten Niederländer, der die Welt umsegelte, von dem englischen Freibeuter und Entdecker Francis Drake (1540-1596), schließlich von dem dritten Weltumsegler und Korsaren Sir Thomas Cavendish (1560-1592).

All dieses Wissen im 17. Jahrhundert muss man sich wahrscheinlich vor Augen führen, wenn man die Kunst der damaligen Zeit bespricht. Dieses Ineinandergreifen von Geschichte, Geographie, Astronomie, Astrologie, Alchemie wurde in manchen Gemälden gefeiert. Ein Maler wie Jan Vermeer van Delft (1632-1675) wird viel von diesen Entdeckungen und Erfahrungen gekannt haben. Sicherlich hatte er Kenntnisse der Geometrie, Arithmetik, der damaligen Physik, aber auch dieser zahlreichen Karten mit den Darstellungen der bekannten Welt. Ein Universum, das schwer auseinander zu nehmen ist, und viel aussagt, über die weiten Denkräume des Künstlers, der den Alltag seiner kleinen Welt abgebildet hat.

Piraten wurden verfolgt und wurden gefeiert. Feuer, Luft, Wasser und Erde hatten neben den Eigenschaften, die Tag für Tag verwendet wurden, übernatürliche Kräfte in einer Welt, die voller Entdeckungen und trotzdem voller Geheimnisse war. Sterne wiesen nicht nur Seefahrern den Weg sondern den Menschen im Leben. Es wurde berechnet, studiert, geprobt und orakelt. Doch die bekannte Welt wurde immer größer. Man kannte Kalifornien schon, wo Francis Drake abstieg, das dicht besiedelte Peru, Afrika war recht gut bekannt, sowie Asien. In Westeuropa gab es England, Irland, Schottland, Norwegen, Spanien, Frankreich, Deutschland und Italien, daran grenzte im Osten Ungarn, Slavonien, Griechenland, das Baltikum. Frankfurt a.M. war Zentrum des als Germania bezeichneten Landes und es war umgeben von Cöln, Hamburg, Stettin, dann Prag, Wien, Basel, Genf, Antwerpen und Amsterdam. Die Entfernungen waren andere: zwischen Frankfurt und Venedig lag nur noch Basel; zwischen Paris und Marseille – nur Lyon.

Als ich jung war, träumte ich davon, Unterwasserarchäologie zu studieren und auf Schatzsuche in die Meere dieser Welt zu reisen. Der Traum endete, als ich erfuhr, dass man als Taucher*in eher mit Einsätzen für die Kripo als mit Schatzfunde Geld verdient. Ich wusste nicht viel über das 17. und 18. Jahrhundert, aber viele der damals zwischen den Kontinenten gefahrenen Güter, könnten auf dem Boden der Ozeane liegen, dachte ich.  Wie die Decke des Schaezlerpalais‘ in Augsburg auch zeigt, waren es bestimmt Gold und Edelsteine, teure Tuchwaren, Lebensmittel und Gewürze, Steingut und Töpferwaren, schließlich Geld jene Waren, die auf Schiffen transportiert und mit denen gehandelt wurde. Schon möglich, dass manches bei Unwetter auf hoher See oder bei Angriff von Freibeutern verloren ging.

Im vergangenen Jahr fand im Schaezlerpalais zwischen dem 20. Mai und dem 11. September eine Ausstellung mit dem Titel „Pax & Pecunia. Kunst, Kommerz und Kaufmannstugend in der Augsburger Deckenmalerei“ statt. Guglielmis Fresko im Festsaal des Stadtpalastes wurde auch besprochen und es wurde an mehreren Stellen hervorgehoben, dass das  Augsburger Bürgertum Wert darauf legte, den internationalen Handel als Tätigkeit zwischen gleichgestellten Partnern erscheinen zu lassen. Wie auf einem modernen Olymp, aus dem die alten Götter vertrieben wurden, sitzen die drei Kontinente um Europa herum an der Decke des Schäzlerpalais‘. An einem Ende des Gemäldes – Asien und Afrika, an dem anderen – Amerika, so getrennt fast wie auf der Karte von 1651. Die geographische Lage wurde hier nachempfunden, die exotischen Tiere, die die Frauenallegorien begleiten, wurden genaustens abgebildet, alles deutet auf eine gute Kenntnis von der Welt jenseits von Europa hin. Die Rolle des internationalen Handels ist in diesem Fresko Reichtum zu verteilen. Nichts trübt diese Darstellung der neuen Welt und damit auch nicht die Zuversicht des Hausherrn.

„Im Gesamtkonzept des Rokokosaales mit seinen Zyklen der Monate, Jahreszeiten und Tierkreise erscheint die dekorative Erdteildarstellung als gezielter Versuch des Bauherren, im Dekorationsprogramm wie auch durch den Bau auf Pracht, Wohlstand und Ansehen seines Hauses und die internationale Spannweite seines Geschäftes hinzuweisen.“

(Schaffer S.C., Der unter Europa florierende Handel. In: Pax & Pecunia. Kunst, Kommerz und Kaufmannstugend in der Augsburger Deckenmalerei. Imhof Verlag, Petersberg 2022, S. 95.)

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Im Schaezlerpalais / unterwegs (Serie)

Die Kerzen sind erloschen, die Spiegel verbreiten kein warmes Licht mehr in den Raum. Das Festsaal des Schaezlerpalais‘ ist im kalten Licht des anbrechenden Morgens getaucht, der Ball ist lange zu Ende, aber der Duft von Puder und Echt Kölnisch Wasser liegt noch in der Luft. Das aus Ölen von Zitrone, Orange, Bergamotte, Mandarine, Limette und Zeder in Köln entwickelte Parfüm ist schon einige Jahre auf dem Markt und auch nach dem Tod seines italienischen Erfinders, Johann Maria Farina (1685-1766), überall sehr beliebt. Die eine Tür zum Saal fällt ins Schloss und man hört die gleichmäßigen Schritte des Dieners, der sich durch die anschließende Enfilade entfernt. Es ist der Morgen des 29. April 1770 und der große Raum wird der Stille überlassen.

Am Tag zuvor besuchte die Erzherzogin Maria Antonia von Österreich (1755-1793) das neue Stadtpalais des Barons Benedikt Adam Freiherr von Liebert, Edler von Liebenhofen (1731-1810) und weihte den Festraum mit einem Ball ein. Die spätere Marie Antoinette machte auf ihrer Brautreise nach Frankreich in Augsburg Station und sollte ursprünglich in dem Rokokopalast übernachten. Nach Plänen des Münchner Hofbaumeisters Karl Albert von Lespilliez (1723-1796) wurde das Gebäude im Oktober 1765 begonnen und befand sich im Frühjahr 1770 in der letzten Bauphase. Nach verschiedenen Absprachen wurde entschieden, dass die Erzherzogin in der fürstbischöflichen Pfalz wohnen würde, was weitere diplomatische Verhandlungen nach sich zog. Schließlich „erging der Beschluss, die Dauphine würde sein (Lieberts, m.A.) Haus besuchen und den Saal mit einem Ball einweihen.“ (Vgl.: Kommer B.R., Das Schaezlerpalais in Augsburg. München u.a. 2003, S. 16.)

Über 400 Kerzen sollen den Raum erleuchtet haben, die Prinzessin ließ sich auf einem großen Sessel (das einzige Sitzmöbel) vor dem hinteren Kamin nieder. Ein Orchester aus über 24 Mitglieder soll musiziert, Maria Antonia soll fünf bis sechs Tänze mit Kavalieren ihrer Suite getanzt haben. Nach einer Stunde zog sie sich zurück, das Fest ging aber noch eine Stunde weiter. „Vielleicht lag das an den reichlich angebotenen Erfrischungen: Die ganze Zeit über ließ von Liebert Tee, Kaffee, Punsch, Mandelmilch, Bavaroise und Konfekt reichen, Lieferungen der k.u.k. Hof-Konditorei. (Vgl. Kommer 2003, S. 12-13.)

Der Blick des in einer Rüsche des Sessels vergessenen Gastes folgt, wie oben gesagt, am Morgen des Folgetages dem Duft des Parfüms und bleibt an dem großen Deckengemälde haften. Es ist ein Porträt in Miniatur des französischen Pastellmalers Joseph Vivien (1657-1734) von Joseph Ferdinand von Bayern (1692-1699), dem früh verstorbenen Sohn von Maria Antonia von Österreich (1669-1692) und Maximilian II. Emanuel von Bayern (1662-1726). Das kleine Bildnis Joseph Ferdinands, der einst nach Wunsch seines Vaters die Nachfolge der spanischen Monarchie antreten sollte, zierte eine Puderdose aus Schildpatt, die sich im Nachlass Max II. Emanuels befand und auf Umwegen in den Besitz seiner Großnichte, der Erzherzogin Maria Antonia, gelang. Gut möglich, dass die erschöpfte Prinzessin, nach dem Tanz eines Menuetts, das Schmuckstück im Augsburger Palais unachtsam fallen ließ.

Auf jeden Fall blickte nun das Abbild des kleinen Prinzen aus seiner goldenen Einfassung auf das Deckengemälde mit Merkur und dem Welthandel, das 1767 der italienische Freskenmaler Gregorio Guglielmi (1714-1773) gestaltete. Es hatte in seiner Reise durch europäische Höfe schon verschiedene Kunstwerke gesehen, nicht zuletzt das Portrait seiner Großmutter mütterlicherseits, Margarita Theresa von Österreich, Infantin von Spanien (1651-1673), im Alter von fünf Jahren in dem Gemälde „Las Meninas“ (1656) von Diego Velázquez (1599-1660). Es erinnerte sich an den Spiegel und an den Durchgang im Gemälde, an den Prunk und dem Gefolge der Infantin und selbst an das Selbstbildnis des Malers.

Der Blick des Kindes aus dem Miniaturbild suchte die Gestalten auf der Decke ab, in der Hoffnung einem versteckten Bildnis des Malers zu begegnen. Gregorio Guglielmi hatte sich aber in dem Festsaal des Schaezlerpalais‘ nicht verewigt. Der Junge kannte seine Art zu malen schon von dem Deckengemälde der Großen Galerie in Schloss Schönbrunn. Er hatte ihn auch am Tag zuvor in einem Stich von vor zwei Jahren 1768 gesehen. Der Stich, der in Augsburg entstand und anlässlich der Feierlichkeiten um die Einweihung des Stadtpalastes in Umlauf war, zeigte Guglielmi nach einem Selbstbildnis  mit Perücke, seidener Haarschleife und Spitzenhalstuch auf der Höhe seiner Karriere. „Peintre en Histoires tres Celebres, nè à Rome Le 13. Decembre 1714“, stand unter dem ovalen, schmucklosen Ausschnitt. (Bildquelle: wikipedia, Beitrag über Gregorio Guglielmi, deutsch, RP-P-1907-1390, 26.02.’23.)

 Im Haus des Barons von Liebert hatte der italienische Maler eine Weltreise um die vier Erdteile imaginiert (Australien erst seit 1770 in Europa bekannt). Europa, umgeben von Afrika, Amerika und Asien legten unter dem Zauberstab des Merkur ihren Reichtum aus und glänzten um die Wette in prunkvoller Ausstattung.  Eine spätere Beschreibung des Freskos lohnt für uns die Aufmerksamkeit, weil sie ins Detail geht und der Pracht der Darstellung gerecht wird:

„Auf Wolken thront eine Frau, Europa, in weitem, weißen, goldgesäumten Gewand. Eine breite, goldene Schärpe läuft über ihre linke Schulter. Im Haar trät sie ein Diadem aus Lorbeerzweigen, über ihr schwebt ein Putto und hält einen Kranz aus zehn Sternen über sie. Mit ihrer Linken fasst Europa ein Szepter und einen Reichsapfel aus Gold, mit der ausgestreckten Rechten weist sie auf ein teilweise von einem blassroten Tuch überdecktes Arrangement aus Gesetzestafeln, Büchern, einem Himmelsglobus und Attributen der Künste (Musik, Architektur, Malerei). Darauf sitzt ein nackter Putto stützt eine Tafel, schultert ein Liktorenbündel und blickt zu seiner Herrin. Zwischen den beiden werden schemenhaft noch zwei Putti sichtbar. Die Szenerie belebt eine weitere Gestalt: Eine geflügelte, posaunenblasende Frau in lilafarbenem Lendentuch und hellblauem Mantel stürzt nach unten: Fama, lorbeerbekränzt, verkündet den Ruhm Europas und gewiss auch des Hauserbauers, Empfängers von Orden und Ehrenmedaille in ihrer ausgestreckten rechten Hand.

Rechts von Europa erblickt man zwei nackte, blonde Putti – einer wendet sich um und greift in die zur Seite wehende Schleppe seiner Herrin -, dann einen unbekleideten alten, weißhaarigen Mann mit Bart und Flügeln. Er lagert, sich abstützend, auf einem großen, gelben Tuch und betrachtet ein aufgeschlagenes Buch: Chronos, Gott der Zeit, liest Datum (1767) und Signatur (Guglielmi pinx(it)) des Schöpfers des Deckenbildes. Neben ihm, noch auf dem Tuch, erkennt man Fahnen, Waffen, einen Helm, eine Kanone, die Instrumente, mit denen die Beherrscherin der Welt den Frieden erhält oder wiederherstellt, reichen Recht, Gesetze, Ordnung allein nicht aus. 

Europas Regiment lässt buchstäblich Blumen erblühen, Früchte reifen (zu Füßen des Chronos), Wohlstand wachsen. Diesen auszuteilen, schwebt Merkur herab. Flügel an den Füßen, Flügelhut und Heroldsstab kennzeichnen ihn als Boten und Handelsgott. Er trägt nur ein lila Lendentuch. Den dekorativen grünen Mantel lässt er in seiner Eile flatternd hinter sich. Locker umfasst er das Füllhorn; ein Strom von Goldmünzen ergießt sich daraus.

Der vom Handel erwirtschaftete Reichtum stammt aus der ganzen Welt. Deshalb umgeben die drei anderen Erdteile Europa. Wendet man sich der hinten sich entfaltenden Szenerie zu, erkennt man rechts Asien.

Zentralgestalt ist eine über dunklem Gewölk auf rotsamtenem, spitzenbesetzten Polster mi gekreuzten Beinen sitzende Frau – kokett schaut ein spitzer Schuh hervor. Sie trägt über einem weißen Hemd ein tief dekolletiertes gelbes Gewand, das eine Brust frei lässt, und eine betresste, pelzgesäumte, kurzärmelige rosa Jacke. Ein blauer Mantel mit Goldornamenten umwallt sie majestätisch, auf dem Haupt sitzt ein phantastischer fezartiger Kopfputz, geschmückt mit edelsteinbesetztem Kronreif, Perlen, Bändern, juwelenbestückter Agraffe und goldener Mondsichel. In ihrer ausgestreckten rechten Hand – am Gelenk prangt ein doppeltes Perlband – bündelt sie vier Kronen und zwei Szepter: Asia tritt als orientalische Herrscherin auf, vielleicht als Personifikation des Osmanischen Reiches.

Rechts assistieren zwei prächtig ausstaffierte Hofdamen, die eine mit einem Pfauenwedel, die andere eine Perlenkette präsentierend. Von der anderen Seite kommt ein Kamelreiter in brauner Tracht und Mutze mit einem Zuckerrohrbündel im Arm herbei. Tief vom Sattel herunter wallt ein blauweiß gestreiftes Seidentuch. Er ist nicht allein, sondern begleitet von einer schwarzhäutigen Person mit Goldschmuck im Haar. Zu sehen ist nur der Kopf.

Zwei Sitzfiguren runden die Komposition ab. Die rechte, mit unbekleidetem Oberkörper, sonst in ein braunrotes Tuch gehüllt, hält eine blaue (Porzellan?)Vase im Schoß. Die streng nach hinten gekämmte Frisur charakterisiert sie als Chinesin. Die zweite, auf einem braunen Tuch sitzend und sich auf ein umgestürztes Gefäß stützend, aus dem Wasser fließt, ist ein nackter Mann mit dunklem Teint. Er mag Indien verkörpern und insbesondere den Gangesfluss. Zur Betonung der Exotik kriecht unten unter dem Wasserstrom ein Krokodil über einen spärlich bewachsenen Hügel.

Links von Asien, kaum davon getrennt, folg auf derselben Wolkenbank die Darstellung Afrikas. Wichtigste Figur ist eine sitzende schwarze Dame. Sie trägt nur einen weißen Rock mit breiter Goldborte und edelsteinbesetztem Fürtel, wird aber lose von einer ins Lila changierenden Draperie umhüllt. Kokett streckt sie ihr gewinkeltes linkes Bein vor und lässt die goldene Sandale mit Schnüren sehen. Auch sonst demonstriert sie ihre herrscherliche Stellung: Am ausgestreckten linken Arm, mit dem sie auf ein kauerndes Leopardenpaar zeigt, prangt oben ein breiter Goldreif. Außerdem trägt sie Perlenohrringe und einen edelsteingeschmückten Kronreif mit Federschmuck.

Ein auf dem Boden liegender geöffneter Fächer und ein zweiter geschlossener verweisen auf das heiße Klima des schwarzen Kontinents. Deshalb ist Schutz vor der Sonne nötig. Ihn bietet ein großer gelber Schirm mit weißer Unterseite, hängenden Lambrquins und krönenden Straußenfedern. Lässig umfasst ihn die afrikanische Königin, ist er doch gleichzeitig Hoheitszeichen. Natürlich gebietet sie über Gefolge. Zu ihm gehört ein Krieger, der, gehüllt in ein Fell, mit eingelegtem Speer zwei Strauße jagt. Ziel sind die geschätzten Federn. Den weiblichen Part übernimmt eine als Rückenakt gegebene sitzende Frau. Eine Goldkette und Federn im Haar zeichnen sie aus. Effektvoll vor einer grünen Draperie postiert, besieht sie einen Elefantenstoßzahn (=Elfenbein), kostbar wie Gold.

Um Amerika zu betrachten, muss man sich umwenden. Die Komposition zum Thema Neue Welt beansprucht den vorderen, östlichen Freskoabschnitt. Die Szenerie entwickelt sich über zwei Bögen in einer mit Bäumen und Büschen bewachsenen Felsenlandschaft. Auf dem kargen vorderen Felsen oder Erdhaufen ist ein nur spärlich mit einem Lendentuch bekleideter Goldgräber postiert. In der Rechten präsentiert er einen großen Goldklumpen, mit der ausgestreckten Linken stützt er sich auf eine Spitzhacke. Vor ihm liegt eine Schaufel, links erblickt man zwei weitere, nicht näher zu identifizierende Geräte.

Die größere, in verschiedenen Grautönen gehaltene Felsformation ist Sitz eines indianischen Damentrios. Am wichtigsten ist die barbusige Kriegerin neben dem aufragenden Baum. Ein blauer Mantel ümhüllt sie so lose, dass ein weißes Röckchen sichtbar wird. Demonstrativ hält die Idianerin in der Rechten einen Bogen, links stützt sie sich ab. Auf dem Rücken trägt sie den wohlgefüllten Köcher – das Band läuft quer über die Brust -, auf dem Kopf einen Federschmuck über goldenem Reif. Während sie nach rechts ins Ungewisse blickt, sehen die Begleiterinnen zu ihr auf.

Bevor der Fels jäh ins Wasser abstürzt, findet sich noch Platz für einen nackten Meergott vor dunkler, knapper Draperie. Aufgeschreckt fliegen zwei Kraniche über ihm auf. Neben einem Wasserfall posierend, wendet sich der weißhaarige und -börtige Herrscher des Ozeans zur Seide der indianischen Königin, doch ohne sie anzublicken. Zum Zeichen seiner Würde trägt er die goldene Zackenkrone, in seiner Linken den Dreizack. Rechts präsentiert er Muscheln wie ein Geschenk. Korallen, Perlen, ganze Ketten quellen heraus. Neptuns Gaben sind für das ankernde Segelschiff bestimmt. Hoch ragt das Achterkastell mit dem von Löwen gehaltenen Midici-Schild auf, wohl eher eine Huldigung an Maria Theresia, Großherzogin-Witwe der Toskana, und an den Sohn Leopold, regierenden Fürsten, als ein Hinweis auf den Florentiner und Nabensgeber des Kontinents, Amerigo Vespucci. Fahne und Laterne sind über dem Wappen aufgesteckt.

Ein rauchender Matrose sitzt auf einem herabwehenden, gestreiften Tuch. Seine Arbeit wird bald beginnen, noch sind auf die Schiffssegel eingerollt. Vielleicht ist das Ziel Livorno, wichtigster Ein- und Ausfuhrhafen der Toskana für Edelmetalle, einer der Orte, wo von Liebert in habsburgischem Interesse gewinnbringenden Silberhandel betrieb.“ (Vgl. Kommer 2003, S. 62-68.)

Ein kräftiger Windstoß ließ im leeren Festsaal die Falten des Seidentuchs auf dem Sessel flattern. Die Puderdose fiel mit leichtem, hellem Geräusch aufs Parkett. Die Eingangstür öffnete sich, ein Diener ging schnellen Schrittes durch den Raum und schloss die Fenster. Er hob die Dose auf und verschwand wieder hinter der mit schwerem Samt behangenen Tür. Es heißt, die Puderdose sei an Maria Antonia zurückgegeben worden, die gleich am Morgen des 29. April 1770 ihren Verlust beklagte. Nach der Französischen Revolution (1789) oder während ihrer Wirren kam das kostbare Objekt in eines der Museen Frankreichs und ist in den Sammlungen unter gegangen. Vielleicht ruht es in einem der Depots aber vielleicht ist es auch irgendwo ausgestellt. Um das herauszufinden, muss man natürlich nach Frankreich reisen.

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Das Piranesi-Prinzip: Eine zeitlose Ausstellung im Internet

Im Schatten der Corona-Pandemie fand vom 04. Oktober 2020 bis zum 07. Juli 2021 in der Berliner Kunstbibliothek eine Ausstellung zum 300. Geburtstag von Giovanni Battista Piranesi (1720-1778) statt, die gemeinsam von Studierenden, Kurator*innen und Forscher*innen der Kunstbibliothek und dem Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt Universität zu Berlin konzipiert wurde und in Kurzfassung bei Google Arts & Culture auch nach dem Event besichtigt werden kann. Es ist an sich nichts Außergewöhnliches, zum runden Geburtstag eines berühmten Architekten, eine Ausstellung mit Exponaten aus dem Bestand einer Kunstsammlung auszurichten, doch griff die hier thematisierte Schau über dieses Vorhaben hinaus. Das liegt nicht allein an der komplexen Persönlichkeit Piranesis, der Archäologe, Künstler, Architekt, Sammler, Designer, Verleger und Autor in einem war, sondern vielmehr an dem Konzept der Ausstellung, die sich nicht zuletzt als Hommage an eine geschichtsträchtige Stadt wie die Stadt Rom präsentierte.

 

Das Piranesi-Prinzip besteht nicht allein in den mannigfaltigen Entwürfen von Architektur, die bei diesem italienischen Meister des späten Barock unterschiedliche Bereiche – wie Design (Kaminentwürfe), Theaterkulissen (Bühnenentwürfe und Gruselkabinette), Veduten (Denkmal- und Stadtansichten) und Urbanistik (Rekonstruktion von alten Stadtteilen) – abdeckt, sondern und vor allem in der Verwertung und in der Aufwertung von Althergebrachtem, von Ruinen, Fragmenten von Statuen, überwuchernder Natur, von Mauerresten bis hin zu verbrauchtem und vergilbtem Papier. Im Werk dieses Künstlers, der sich dem Verfall einer Stadt verschrieben hat, scheint der antike Ruhm Roms erstrecht aufzublühen und der unverwechselbare Charme der neuzeitlichen Metropole zu liegen. Die kraftvolle Zeichnung des Meisters ist nicht nur Ausdrucksmittel eigener Persönlichkeit, sondern auch der Schönheit einer Architektur, die in ihrer ständigen Verwandlung lebendig bleibt.

 

Betrachtet man die Rekonstruktion des Circus Maximus in Rom sieht die Architektur wie eine Traumkulisse aus, die wann immer auf- und abgebaut werden kann. In den Entwürfen ist dieser Aspekt der potentiellen Abänderung oder der Metamorphose von Architekturelementen noch deutlicher. Wiederholte, sich schlängelnde oder sich verlaufende Linien heben die Formen aus der zweidimensionalen Fläche des Papiers hervor und suggerieren zugleich einen möglichen, anderen Verlauf und somit nicht ausgeführte aber im Blick des Betrachters entstehende, potentiell neue Anordnungen. Der/Die damalige Besucher*in von Piranesis Werkstatt und Sammlung und der/die heutige Nutzer*in des digitalen Angebots kamen und kommen mit Sicherheit ohne technischen Hilfsmittel zur Interaktion mit den Bildern. Es gibt viel Raum, um die Kulissen nach eigenem Geschmack in der Vorstellung zu ergänzen, denn man wird von diesem Meister der optischen und geistigen Verführung an jedem Detail der Zeichnung abgeholt.

 

Eine auf jeden Fall zu empfehlende Ausstellung im Internet, bestimmt auch mit aufschlussreichem, anschließendem Besuch der Bestände der Kunstbibliothek in Berlin.

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Der Leiermann – ein Kulturvermittlungsprojekt aus Österreich

In diesen Tagen kommt wohl kein*e Kunstliebhaber*in und kein*e Kunsthistoriker*in an dem Maler Johannes Vermeer (1632-1675) vorbei. Die Sensation um sein Bild des Liebesgottes mit Bogen, Pfeilen und zwei Masken in dem Bild des „Brieflesenden Mädchens am offenen Fenster“ (1657-1659) zieht weltweit das Publikum in ihren Bann. Von 2017 bis 2021 wurde das Bild im Bild in der Restaurierungswerkstatt für Gemälde der Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden freigelegt und somit eine ungetrübte Betrachtung und umfassende Interpretation des Kunstwerks ermöglicht. Jetzt ist es in einer Ausstellung mit dem Titel „Johannes Vermeer. Vom Innehalten“ bis zum 02. Januar 2022 in Dresden zu besichtigen.

 

Sucht man das Internet nach Beiträgen zu Jan Vermeer ab, stellt man schnell fest, dass wenige Seiten, die sich der Vermittlung von Kunst verschrieben haben, ohne den holländischen Maler des Barock auskommen. Ob Internetseiten von Museen, von analogen Medien wie Funk und Fernsehen oder artsandculture.google.com – fast alle sind Einführungen in die Kunst Vermeers, die im diskursiven Verlauf naheliegende Schritte in Richtung Vermittlung komplexer Inhalte vornehmen. Wie bei keinem anderen Maler der Geschichte der Kunst scheinen die klaren Bilder fast unvermittelt zu den universellen Themen wie Raum und Zeit, Leben und Tod, Kunst und Wahrnehmung, Farbe und Licht und nicht zuletzt Liebe und Leid zu führen.

 

In diesen Tenor stimmt auch ein bebilderter Text ein, der in der Sparte „Bildende Kunst“ in dem Blog auf der Kunstvermittler-Seite aus Österreich – „Der Leiermann. Die ganze Welt der klassischen Kultur“ – veröffentlicht wurde. Der Beitrag wurde von Georg Rohde, einem der Autor*innen der Plattform, verfasst, der vermutlich nicht zufällig ein Detail aus dem Bild „Die Dienstmagd mit Milchkrug“ von Vermeer als Header wählte. Darin ist vor allem der milchige Lichteinfall auf dem Oberkörper der Frau und auf der dahinter stehenden weißen Wand zu sehen, so wie er im 17. Jahrhundert als der eines substantiellen Äthers verstanden und gesehen wurde.

 

Sicher wird in dem Beitrag vor allem das im Kunsthistorischen Museum in Wien aufbewahrte Bild Jan Vermeers „Das Atelier“/“Die Malkunst“ besprochen, doch darüber hinaus führt er in die Kunst des europäischen Barock ein und macht Lust auf mehr Konsum von Kunst und Kultur der klassischen Epochen. Diese Qualität ist für die ganze Internetseite „Der Leiermann“ bezeichnend: Ob der Verlag, die Kursplattform oder der Blog – alle greifen ineinander und spannen einen Bogen zwischen Vermittlung von Grundkenntnissen und Ausführung von Kenner-Wissen. Es bleibt dem/der Nutzer*in überlassen, den letzten Schritt der Kunst entgegen zu schreiten und sich – entweder in passiver Lektüre und Betrachtung oder in analoger und einfachen digitaler Interaktion – für den Genuss von literarischer, musikalischer oder bildender (und sogar kulinarischer) Kunst und Geschichte auf dieser Plattform zu entscheiden.

 

Es werden historische Geheimnisse gelüftet, Fenster und Türen zur Musik geöffnet, Brokatvorhänge vor Bildern verschoben, die Wiener Küche vorgestellt,  aber es wird niemals alles erzählt, nie alles erklärt, nirgendwo alles gezeigt, so dass die Neugierde von Besucher*innen dieses virtuellen Raums der klassischen Kultur eher angeregt als gestillt wird. Eine der spannendsten Rubriken ist jene der Stadtschreiber*innen, in der man als Leser*in zeitgenössischer Chronist*innen beiwohnt, die Alt und Neu in den Städten Europas erfahrbar machen.

 

In einer Zeit, in der an jeder Ecke (klimatische und andere) Katastrophen lauern, erfährt die Angst vor dem Ende und der Leere einen Zuwachs, der zugleich den Hunger nach Leben und nach Inhalten steigert. Man kann nicht immer überall sein, nicht alles erleben, nicht alles sehen, obwohl man es heutzutage vielleicht gerne täte. Eine solche Plattform wie „Der Leiermann“ bietet eine gute Gelegenheit dazu, mit dem Kern europäischer Kunst und Kultur in angenehmer Weise und von überall aus vertraut zu werden. Außerdem bringt sie vielseitige Autoren und heterogenes Internetpublikum in einem wirtschaftlichen Modell zusammen, der sich für beide Seiten zu lohnen scheint.

 

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Blumen zwischen Weltfrauentag und Palmsonntag

Wenn am kommenden Dienstag die Alte Pinakothek in München wieder öffnet, wird sich mit Sicherheit der/die eine oder andere nicht nehmen lassen, die Räume des berühmten Museums wieder zu betreten. Für kurze Zeit wird man die Online-Sammlung dort lassen, wo sie ist, nämlich im Internet, und sich zu dem Treffen mit Originalen begeben. Wie alte Bekannte wird man einige Kunstwerke wieder begrüßen können und vielleicht auch neue Freundschaften schließen.

Überraschend lebendig und aktuell werden manche Themen von Bildern erscheinen, auf jeden Fall jenes Blumenstillleben von 1715 der holländischen Malerin Rachel Ruysch (1664-1750) im Kabinett 7 im Obergeschoss der Alten Pinakothek. Das Bild wird man zusammen mit den vier Jahreszeiten des Malers Jan Brueghel d.Ä. (1568-1625) und mit zwei Blumen- und Früchtestillleben von Jan van Huysum (1682-1749) besichtigen können, die um 1710/20 entstanden sind. Von hier aus kann ein Stillleben-Rundgang durch die Alte Pinakothek gestartet werden, der manche schöne Überraschung verbirgt.

Zu den Sehenswürdigkeiten dieser Gattung gehört zweifelsfrei das Bild von Willem Kalf (1619-1693) Das Stilleben mit Porzellankanne von 1653 das im Kabinett 19 von einigen zeitgleichen Genregemälden umgeben ist. Es gehören zu diesem ersten Rundgang mit Sicherheit auch die beiden Bilder von Jan Davidsz. de Heem (1606-1684) im Kabinett 23 im OG des Museums. Das eine Stilleben mit Früchten und Silberschale ist vermutlich um 1652 gemalt worden, das zweite – Blumenstillleben mit Totenkopf und Kruzifix – um das Jahr 1645.

Das Bild von Abraham van Beyeren (1620-1691) – Großes Stillleben mit Hummer – von 1653 kann ebenso in Saal IX im OG der Pinakothek besucht werden. Neben berühmten Werken des Rembrandt Harmensz. van Rijn (1606-1669) hängt da noch ein holländisches Stillleben von um 1670/80 von Juriaen van Streek (1632-1687), dessen Titel – Stillleben mit Mohr und Porzellangefässen – von der Geschichte der Niederlanden als Kolonialmacht erzählt. Schließlich wird man vor dem Bild von Balthasar van der Ast (1593-1657), Stilleben mit Früchten und Seeschneckenhäusern von um 1653 im Kabinett 20 verweilen können.

Bekanntlich sprechen die Gemälden der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts von der Vergänglichkeit von Pracht und Prunk und mahnen zur Enthaltsamkeit. Gewiss wird man bei diesem kleinen Rundgang auf andere Stillleben treffen, die vielleicht seit dem letzten Besuch der Alten Pinakothek in Vergessenheit geraten sind. Als Beispiel sei hier noch einmal ein Bild Jan Brueghel d.Ä. genannt: Die Heilige Familie (um 1620/23) im Kabinett 9 im OG der Alten Pinakothek.

Bei dem analogen Rundgang durch die ständige Ausstellung der Gemäldegalerie in München werden bestimmt auch Assoziationen mit anderen Gattungen barocker Malerei wieder aufflackern. So wie sich manches Detail erst vor dem Original erschließt, wird auch mancher Gedanke an Leben und Tod im Gehen wiederaufgenommen werden. Diese und andere Gedanken können aber – zum Abschluss des Parcours – ihre Leichtigkeit wieder gewinnen, wenn man die beeindruckenden, in anderen Sammlungen der Welt aufbewahrten Blumenstillleben der eingangs erwähnten Malerin Rachel Ruysch, digital abruft.

Blumenstrauss, 1706, Kunsthistorisches Museum Wien, Kabinett 17.

Blumen in der Vase, um 1685, National Gallery London, Room 17a.

Blumenstillleben, 1698, Städel Museum Frankfurt, 2. OG