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Zu Besuch in Köln / unterwegs (Serie)

Es ist ein seltsames Gefühl, Orte zu besuchen, in denen man einst gelebt hat. Irgendwie kennt man die besser als ein Tourist, irgendwie will man nach Hause, aber man bleibt im Status des Gastes gefangen. Mit Sehenswürdigkeiten kann man nicht viel anfangen, weil man sie in- und auswendig kennt, an Stellen, wo sich das Leben ehemals abgespielt hat, kann man nicht verweilen, man besucht sie lediglich von außen. Irgendwie ist man Tourist in der eigenen Vergangenheit, ein Besucher des eigenen Lebens.

Ich bin relativ oft in Köln, in der Stadt, in der in den 1990er Jahre gelebt habe. Jedes Mal gehe ich den Dom und mache immer die gleichen Bilder vom Hauptschiff, vom Querhaus, vom Chorraum. Ich kann mich an dem Licht nicht satt sehen, den großen geschlossenen Raum nicht genug erleben. Ich bleibe im Langhaus, am Altar Stephan Lochners (1400/10 – 1451), an dem Schrein mit den Gebeinen der Heiligen Drei Könige, auf dem Mosaik des Chors und wieder zurück im Querhaus stehen.

Die Dreikönigenpforte in der Nähe der Kirche Sankta Maria im Kapitol kommt mir in den Sinn, in deren Nähe der Erzbischof und Reichskanzler Kaiser Friedrich Barbarossas (um 1122 – 1190), Rainald von Dassel (1114/1120 – 1167) im Sommer 1164 die Gebeine der Heiligen Drei Könige von Mailand nach Köln gebracht haben soll. In römischer Zeit standen da Tempel und weiter westlich, um den heutigen Neumarkt, – Thermen. Diese Bauten, die in Köln leider nicht mehr vorhanden sind, gehören zu den m.E. schönsten der römischen Alltagsgeschichte und können vielerorts an archäologischen Stätten europaweit betrachtet werden. Natürlich dachte ich im verregneten Köln der 1990er Jahre immer wieder an das caldarium, während ich in Cafés um den Neumarkt heiße Schokolade trank.

Doch von der Domplatte aus betrachte ich jedes Mal von oben herab das kurze Stück gepflasterter römischer Straße, die unweit des Römisch-Germanischen Museums erhalten geblieben ist. Früher hüpfte ich unten von einem Stein auf den anderen, über die breiten Furchen, die sie umgaben, und dachte an die zahllosen gebrochenen Achsen der Wägen in den Antike und der ebenso vielen verletzten Knöchel von Sandalenträger*innen. Aber vielleicht war damals Sand und Schotter zwischen den großen Steinen etwas höher oder wurde regelmässig erneuert, so dass es nur leichte Unebenheiten gab.

Der Heinrich-Böll-Platz hinter dem Dom, hinunter zum Rhein, hat mich in Köln von Anfang an fasziniert. Für eine Zwischenprüfung an der Universität lernte ich Kölner Denkmale in- und auswändig, darunter auch Verschiedenes über diese Treppenarchitektur gestaltet von dem israelischen Künstler Dani Karavan (1930-2021). Heute ist die Anlage unter anderen mit Lavendel begrünt und lässt mich immer wieder an den Süden Frankreichs denken. In Portbou, an der Grenze zu Spanien, gibt es seit Mitte der 1990er Jahre eine Gedenkstätte „Passagen“ ebenfalls von Karavan in Erinnerung an Walter Benjamin (1892-1940) errichtet, die ich Anfang der 2000er besuchte. In Köln führen weite Terrassen zum Rhein, in Portbou ist es ein schmaler Korridor aus Stahl, der Besucher zum Wasser leitet. Gemeinsam ist den Orten, wie mir scheint, die Melancholie: in Köln grenzt die Anlage an den Bahnübergang der Hohenzollernbrücke, in Porbou ist das Denkmal an der dortigen Friedhofsmauer gebaut. In beiden Fällen spielen Wind, Wasser und Licht eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung der Ensembles.

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Die Welt im 17. Jahrhundert / unterwegs (Serie)

Eine Weltkarte von 1651 zeigt die Welt aufgeteilt in zwei kreisrunde Hälften. Die eine enthält die beiden Amerika umgeben von Mar del Nort im Osten und Mar del Zur im Westen (geteilt in Ocean of Peru und Pacific Sea), die andere – Europa, Asien, Afrika und das südliche damals noch nicht bekannte Land mit Westerne Ocean, Indian Sea, Atlanticke Sea, Chinensis Ocean und oben im Nordosten Tartarian Sea. Der Äquator ist angegeben, die beiden Pole, die Klimazonen: South Frozen Zone, Temperate Zone, Torride Zone und Nord Frozen Zone. Die imaginären Linien – Meridiane und Parallelen – sind ebenfalls aufgezeichnet. In den beiden Kreisen sind neben den zahlreichen, bekannten Orten auf den Erdteilen noch einige Kartuschen mit historischen Daten eingetragen.

In den beiden unteren Ecken der Karte werden Mond- und die Sonnenfinsternis erklärt, dazwischen sind die (männlichen) Allegorien von Feuer (mit Salamander) und Luft (mit Vögel) links und rechts von der südlichen Hemisphäre mit Sternbilder dargestellt. Am oberen Rand umrahmen die (weiblichen) Elemente Wasser und Erde die nördliche Himmelshalbkugel, in der linken oberen Ecke werden die Elemente des Himmels als ein großer Kreis mit vielen konzentrischen Kreisen gezeichnet: In der Mitte ist die Erde umgeben von Luft und Feuer, es folgen die Bahnen von Mond (Silber), Merkur (Quecksilber), Venus (Kupfer), Sonne (Gold), Mars (Eisen), Jupiter (Zinn), Saturn (Blei). Diese werden umgeben vom achten Himmel (Sternzeichen), danach vom neunten, kristallinen Himmel und schließlich dem zehnten und ersten „beweglichen“ Himmel. In der rechten oberen Ecke gibt es eine Kugel, die die Form der See wiedergeben soll. Die Karte enthält noch kleine Medaillons mit den Porträts von dem Seefahrer Ferdinand Magellan (1480-1521), von Oliver van Noort (1558-1627), dem ersten Niederländer, der die Welt umsegelte, von dem englischen Freibeuter und Entdecker Francis Drake (1540-1596), schließlich von dem dritten Weltumsegler und Korsaren Sir Thomas Cavendish (1560-1592).

All dieses Wissen im 17. Jahrhundert muss man sich wahrscheinlich vor Augen führen, wenn man die Kunst der damaligen Zeit bespricht. Dieses Ineinandergreifen von Geschichte, Geographie, Astronomie, Astrologie, Alchemie wurde in manchen Gemälden gefeiert. Ein Maler wie Jan Vermeer van Delft (1632-1675) wird viel von diesen Entdeckungen und Erfahrungen gekannt haben. Sicherlich hatte er Kenntnisse der Geometrie, Arithmetik, der damaligen Physik, aber auch dieser zahlreichen Karten mit den Darstellungen der bekannten Welt. Ein Universum, das schwer auseinander zu nehmen ist, und viel aussagt, über die weiten Denkräume des Künstlers, der den Alltag seiner kleinen Welt abgebildet hat.

Piraten wurden verfolgt und wurden gefeiert. Feuer, Luft, Wasser und Erde hatten neben den Eigenschaften, die Tag für Tag verwendet wurden, übernatürliche Kräfte in einer Welt, die voller Entdeckungen und trotzdem voller Geheimnisse war. Sterne wiesen nicht nur Seefahrern den Weg sondern den Menschen im Leben. Es wurde berechnet, studiert, geprobt und orakelt. Doch die bekannte Welt wurde immer größer. Man kannte Kalifornien schon, wo Francis Drake abstieg, das dicht besiedelte Peru, Afrika war recht gut bekannt, sowie Asien. In Westeuropa gab es England, Irland, Schottland, Norwegen, Spanien, Frankreich, Deutschland und Italien, daran grenzte im Osten Ungarn, Slavonien, Griechenland, das Baltikum. Frankfurt a.M. war Zentrum des als Germania bezeichneten Landes und es war umgeben von Cöln, Hamburg, Stettin, dann Prag, Wien, Basel, Genf, Antwerpen und Amsterdam. Die Entfernungen waren andere: zwischen Frankfurt und Venedig lag nur noch Basel; zwischen Paris und Marseille – nur Lyon.

Als ich jung war, träumte ich davon, Unterwasserarchäologie zu studieren und auf Schatzsuche in die Meere dieser Welt zu reisen. Der Traum endete, als ich erfuhr, dass man als Taucher*in eher mit Einsätzen für die Kripo als mit Schatzfunde Geld verdient. Ich wusste nicht viel über das 17. und 18. Jahrhundert, aber viele der damals zwischen den Kontinenten gefahrenen Güter, könnten auf dem Boden der Ozeane liegen, dachte ich.  Wie die Decke des Schaezlerpalais‘ in Augsburg auch zeigt, waren es bestimmt Gold und Edelsteine, teure Tuchwaren, Lebensmittel und Gewürze, Steingut und Töpferwaren, schließlich Geld jene Waren, die auf Schiffen transportiert und mit denen gehandelt wurde. Schon möglich, dass manches bei Unwetter auf hoher See oder bei Angriff von Freibeutern verloren ging.

Im vergangenen Jahr fand im Schaezlerpalais zwischen dem 20. Mai und dem 11. September eine Ausstellung mit dem Titel „Pax & Pecunia. Kunst, Kommerz und Kaufmannstugend in der Augsburger Deckenmalerei“ statt. Guglielmis Fresko im Festsaal des Stadtpalastes wurde auch besprochen und es wurde an mehreren Stellen hervorgehoben, dass das  Augsburger Bürgertum Wert darauf legte, den internationalen Handel als Tätigkeit zwischen gleichgestellten Partnern erscheinen zu lassen. Wie auf einem modernen Olymp, aus dem die alten Götter vertrieben wurden, sitzen die drei Kontinente um Europa herum an der Decke des Schäzlerpalais‘. An einem Ende des Gemäldes – Asien und Afrika, an dem anderen – Amerika, so getrennt fast wie auf der Karte von 1651. Die geographische Lage wurde hier nachempfunden, die exotischen Tiere, die die Frauenallegorien begleiten, wurden genaustens abgebildet, alles deutet auf eine gute Kenntnis von der Welt jenseits von Europa hin. Die Rolle des internationalen Handels ist in diesem Fresko Reichtum zu verteilen. Nichts trübt diese Darstellung der neuen Welt und damit auch nicht die Zuversicht des Hausherrn.

„Im Gesamtkonzept des Rokokosaales mit seinen Zyklen der Monate, Jahreszeiten und Tierkreise erscheint die dekorative Erdteildarstellung als gezielter Versuch des Bauherren, im Dekorationsprogramm wie auch durch den Bau auf Pracht, Wohlstand und Ansehen seines Hauses und die internationale Spannweite seines Geschäftes hinzuweisen.“

(Schaffer S.C., Der unter Europa florierende Handel. In: Pax & Pecunia. Kunst, Kommerz und Kaufmannstugend in der Augsburger Deckenmalerei. Imhof Verlag, Petersberg 2022, S. 95.)

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Arbeitsweg in Augsburg / unterwegs (Serie)

Jeden Morgen fahre ich mit der Straßenbahn Nr. 4 in die Arbeit. Ich wohne in Augsburg Oberhausen Nord und während der Fahrt vom Eschenhof zu der Wertachbrücke begleiten mich Gedanken zur Stadtgeschichte. Ich wähle mir mit dem Blick durch die breiten Fenster wechselnde Orte und Gebäude, die auf dem Weg liegen, und lasse Bruchstücke Augsburger (deutscher, bayerischer und europäischer) Geschichte vor dem inneren Auge passieren. Jedes Mal weckt das mein Bewusstsein in Europa zu leben und jeder Schritt auf dem Asphalt bestätigt mein Dasein.

Ich steige an einer Straßenbahnstation ein vor dem Eschenhof, eine 1928 vom Stadtbauamt (Architekt Otto Holzer) errichtete viergeschossige quadratische Wohnanlage. Gerade habe ich die Siedlung an der Schönbachstraße verlassen, deren süd-westlichen Wohneinheiten durch Torbögen miteinander verbunden sind. Zwei Rundplastiken stellen gegenüberstehende Löwen dar, die zwischen ihnen ein Schlild mit den Jahreszahlen 1929 und 1930 halten. Die Anlage hat ihre ursprüngliche Sachlichkeit erhalten, auch wenn in den 2000er Jahren Modernisierungen vorgenommen worden sind. Die Wohnblocks sind jetzt in Pastelltönen gefärbt, leichte Balkone sind den Seiten vorgelagert.

Anfang der 1930er Jahre wird der Eindruck viel strenger gewesen sein, ältere schwarzweiß Aufnahmen belegen die triste Umgebung. Die Wohnungsnot der damaligen Zeit war Ausgangspunkt der Baumaßnahmen und sicher war die streng geometrische Anlage der Augsburger Fuggerei – die Vorfahrin aller Sozialsiedlungen (zwischen 1516 und 1523 von Baumeister Thomas Krebs) –  Vorbild und Maßstab der späteren Ausführung am Eschenhof. Die benachbarte Schönbachsiedlung ist 1946 als Notsiedlung entstanden und war in ihrer Gestaltung bis ins Detail von den Amerikanern geregelt. „Die wenigsten wissen allerdings“, schreibt Chr.R. Kreikle in dem Band „Augsburg zu Fuß“ von 1993 (Hrsg.: W. Kucera und R. Forster), „dass sich auf einem großen Teil der heutigen Schönbachsiedlung in der Nazizeit ein Zwangsarbeiterlager befand.“ (S. 215). Hinter den Bögen von 1929/30 standen also einst Wohnbauten, denen 1942 ein Lager folgte, das 1946 erneut von Wohnungen abgelöst wurde, die in den 2000er Jahren modernisiert wurden. Hier zog ich 2007 ein, als mich ein Arbeitsauftrag und finanzielle Not von München nach Augsburg brachten.

 

 

An München denke ich am Morgen oft auch. Wenige Kilometer weiter nördlich von meinem jetzigen Wohnort liegt das Autobahnkreuz Augsburg West die schnellste Verbindung zur A 8 Richtung München. Jeden Tag ziehen Pendlerautos auf der Donauwörtherstraße an meiner Bahnhaltestelle vorbei, andere Reisende steigen mit mir in die 4er Straßenbahn ein und fahren bis zur Endstation Hauptbahnhof. Für manche geht es dann weiter mit der Regionalbahn nach München, den Weg legte ich kurz nach meinem Umzug auch für ein paar Jahre zurück. „Das beste an Augsburg ist der Zug nach München.“ Der Satz, der Bertold Brecht (1898-1956) zugeschrieben wird, ging mir damals durch den Kopf, als ich Land und Leute wenig kannte und es an Augsburg noch einiges zu entdecken gab.

Zwei Haltestellen weiter bin ich an der Station Bärenwirt, die an dem Stadtteil Bärenkeller grenzt. Hier denke ich oft an dichte Wälder voller Wildtieren, römischer Soldaten, germanischer Stämme und an ein Gasthaus „Zum Bären“, das vielleicht hier einmal stand, ein Stück weit vom Eingang in die Stadt an der Wertach. Aber nein, so war es nicht! Selbst wenn nicht weit entfernt von meinen Phantasien, so sprechen Lexika und Bücher zur Stadt Augsburg von einer anderen Realität. Eine Brauerei „Zum Goldenen Bären“ soll hier vor mehr als 600 Jahren von Mönchen betrieben worden sein. Das Stadtteil selber ist erst 1932 entstanden und nach 1933 planmässig und ideologisch geprägt bebaut worden. Ein Stück Geschichte des NS-Regimes also und dessen Siedlungspolitik, wie des öfteren in den Städten des Landes.

Doch wie nicht anders bei Augsburg, einer Gründung des Jahres 15 v.Chr. aus der Zeit des römischen Kaisers Augustus zu erwarten ist, waren die Römer doch hier, im südlichen Oberhausen. Der Fund eines Grabsteins unweit der Straßenbahnhaltestelle Bärenwirt belegt das. „Das römische Grabmal zählt zu den bedeutendsten Funden der Antike, die man in der Augsburger Gegend gemacht hat; es soll das schönste römische Grabmal nördlich der Alpen sein. Das Monument wurde 1709 in drei Metern Tiefe (…) gefunden; über 100 Jahre überließ man es an der Hauptstraße den Witterungseinflüssen, bis es – auf einigen Umwegen – (…) seinen jetzigen Standort im Römischen Museum fand (…).“ (Kreikle, Wo es zum Himmel stinkt. In: Kucera/Forster, Augsburg zu Fuß, 1993, S. 209)

Auf der anderen Seite der Verkehrsknotenpunktes und der Wertach erstrecken sich die M.A.N.-Werke mit ihrer langen wechselhaften Geschichte. Ich denke hier manchmal bei meiner täglichen Fahrt in die Arbeit an die Biographie über Rudolf Diesel (1858-1913), geschrieben 1937 und neu aufgelegt 1983 von seinem Sohn Eugen Diesel (1889-1970): „Diesel. Der Mensch, das Werk, das Schicksal“, die ich als erstes las, als ich nach Augsburg umzog. Ich war damals ergriffen von dem aufregenden Leben des Erfinders, von seiner Zusammenarbeit mit Heinrich von Buz (1833-1918), dem Direktor der Maschinenfabrik Augsburg, von seinem rätselhaften Tod 1913 am Ärmelkanal. Später besuchte ich das kleine M.A.N.-Museum unweit vom heutigen Gelände der Werke und blieb beeindruckt von den dort ausgestellten schönen alten Druckmaschinen und den ersten Diesel-Fahrzeugen. 

Meine Straßenbahn verlässt am Morgen recht schnell diese Orte und bringt mich zurück in die Gegenwart an die Wertachbrücke, wo ich umsteigen muss. Mein Blick bleibt kurz an der wehrhaften Mauer der evangelischen Kirche St. Johannes (errichtet 1930) haften, die nah an der Kreuzung liegt und ein architektonisches Ensemble mit der katholischen Kirche St. Josef (erbaut 1876-78) bildet. Es ist einer jener baulichen Zusammenschlüsse von evangelischen und katholischen Kirchen, die man in Augsburg, der Stadt des Religionsfriedens von 1555, auf Streifzügen mehrmals begegnet. Der Frieden des 16. Jahrhunderts zwischen Protestanten und Katholiken wird somit den Passanten wie in keiner anderen Stadt der Welt buchstäblich bei Schritt und Tritt in Erinnerinerung gebracht.

Ich bremse hier meine Gedanken, die mich über Kaiser Karl V. (1500-1558) an die Bildnisse seines Hofmalers Tizian (gest. 1576) in der Münchner Alten Pinakothek und im Museo del Prado in Madrid führen würden. Zu viele Bilder der großen europäischen Sammlungen, die im Gedächtnis nur auf einen Augenblick mangelnder Konzentration und darauf warten, meine Aufmerksamkeit zu erstürmen. Ich mache einen gedanklichen Rückzieher blende schnell Gent in Belgien, den Geburtsort des Kaisers, ein. Dort kann ich gedanklich lange in der Kathedrale St. Bavo (942 eingeweiht) vor dem Altar der Brüder Hubert (1370-1426) und Jan van Eyck (um 1390-1441) stehen bleiben und die Bilder, die ich ohne weiter zu denken nur bewundere, betrachten.

 

 

Inzwischen fährt mich eine Straßenbahn Nr. 2 über den Oberhauser Bahnhof mit seiner schlichten Architektur vom Beginn der 1930er Jahre, vorbei an das neu bebaute Areal der ehemaligen Reese-Kaserne, in der US-amerikanische Truppen in den Nachkriegsjahren bis 1993/94 stationiert wurden. Ein Stück deutsch-deutscher Geschichte, die hier geschrieben wurde, als im Zuge der Einheit die Alliierten das Land verließen und weite Teile der lokalen Wirtschaft dahinfegten. Ich fahre durch Kriegshaber, ein Stadtteil Augsburgs über dessen Bezeichnung die Fachleute streiten. Eine Theorie besagt, dass in der Römerzeit ein griechischer Söldner namens Avar („Krieche Avar“) hier in einer Schlacht gegen Kelten den Tod fand. Sprachwissenschaftler glauben, dass ein aus Rheinfranken eingewanderter Bauer namens „Chriech“ den Namen des Stadtteils gab. Schließlich besagt eine dritte Theorie, dass „Grieshaber“ den Boden hier bezeichnete (Sandboden, „Griesle“), auf dem nur Hafer (= haber) wuchs. (Vgl.: Kreikle, Stadtteil am Rand. In: Kucera/Forster, Augsburg zu Fuß, 1993, S. 200.)

Zwei Stationen bevor ich morgens am Universitätsklinikum / Bezirkskrankenhaus aussteige, passiert mein Weg eine alte Synagoge, die eng an der Straße gebaut wurde, nach 1945 in Vergessenheit geriet und 1985 „wiederentdeckt“ wurde. Sie blieb von den Zerstörungen der Nazis weitgehend verschont, hier gingen jüdische Gläubige zum Gebet nach der Zerstörung der Augsburger Synagoge 1938. Ich denke kurz an die schöne „byzantinische“ Kuppel der großen Synagoge in der Halderstraße in der Nähe des Augsburger Hauptbahnhofs, die heute auch ein Museum beherbergt. 1917 wurde sie im Jugendstil erbaut und „galt damals wie heute in Deutschland als einzigartig“. (Fischer R. unter Mitarbeit von Kaus K., Streifzug durch die Gründerzeit. In: Kucera/Forster, Augsburg zu Fuß, 1993, S. 90.)

Ich bin keine zwanzig Minuten eigentlich außerhalb der historischen Stadtmauern von Augsburg gefahren und habe an die Antike, die Nazi-Zeit, die Habsburger Monarchie, Amerika, Byzanz und vieles andere mehr denken müssen. Vieles verbindet sich mit der eigenen Biographie, manches bleibt immer noch verborgen. Jeder Weg durch den Alltag ist ein Weg durch Europa in seiner Geographie, Geschichte, Kunst, Kultur und Natur. Die letzten zehn Minuten zur Arbeitsstelle gehe ich zu Fuß durch eine künstlich angelegte Parkanlage auf der Rückseite des klobigen Gebäudes des Klinikums aus den 1970er Jahren. Nein, nein! Jetzt denke ich nicht an die historische Gartenarchitektur Englands und als Gegenpol an jene Frankreichs sondern gehe arbeiten! Nein! Jetzt bloß kein Versailles, kein Englischer Garten in München, kein Schleißheim, kein Nymphenburg….

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iART – ein Tool zum Vergleich großer Datenmengen bietet interessante Analogien

Gibt man in der Suchmaschine www.iart.vision die Stichwörter „Lady with Camellias“ ein, so hat man zuerst den Eindruck, dass der Bildschirm brennt. Wie es die europäischen Datenbanken wollen, aus denen der Tool seine Ergebnisse schöpft, sticht eine heteronormative Sicht des Themas heraus. Von Hellrosa bis Dunkelrot brennen sich die weiblichen Porträts samt Blumenstäussen, -kränzen und -arrangements in das Bewusstsein der Betrachter, bevor diese überhaupt die unterschiedlichen Genres oder die einzelnen Epochen auseinanderhalten können. Ob adlig oder bürgerlich, ob arm oder reich, ob bekleidet oder nicht, oberste Attribute aller dargestellten Damen sind Sinnlichkeit und Attraktivität. So als ob von Titian und Rembrandt über Van Dyck, Largillière und Boucher bis hin zu den Präraffaeliten und den Fashion-Zeichnern der Biedermeierzeit, quer durch alle Schulen und Regionen Europas immer nur die eine ideellen Kameliendame gemalt worden wäre, das Sinnbild von weiblicher Schönheit und Erotik.

 

Interessant ist allerdings, dass bei einer genaueren Betrachtung der Abbildungen und einer differenzierten Clustereinstellung sich der Verdacht einstellt, dass in den Frauenporträts mit Blumen der späteren Jahrhunderte – als das barocke Rollenspiel in Anlehnung an die Antike abklang – nach Wunsch des Malers, des Modells oder des/der Auftraggebers*in eigentlich auch (nur) Varianten von Venus beziehungsweise Flora abgebildet wurden. Gibt man in die Suchmaschine die Termini „Venus“ oder „Flora“ ein, erscheinen allerdings ganz andere Ergebnisse, mit denen man als Kunsthistoriker*in auch rechnet. Die Venusdarstellungen sind allesamt Aktbilder, die Flora-Darstellungen – blumig und mädchenhaft. Dass der oben beschriebene Schönheitideal, welches in der Romantik der Literatur entlehnt wurde, in der Kunst so weit zurückreichende und zahlreiche Vorbilder hat, war mir in dieser Form nicht bekannt, wird aber jetzt dank der Suchmaschine sehr deutlich. Zwischen den Venus- und Flora-Typen erscheint ein anderes Frauenbild, welches die beiden Vorgänger vereint, sich im Laufe der Jahrhunderte in der Malerei profiliert hat und in der Romantik im wahrsten Sinne des Wortes zur Blüte gelangt ist.

 

Ein anderes Beispiel zeigt, dass dieses Ergebnis keineswegs ein Zufall ist, sondern die Suchmaschine tatsächlich in der Lage ist, neue und interessante Perspektiven auf die Kunst zu werfen. Probiert man eine Suche nach den Gemälden von Chardin erscheinen selbstverständlich erstmal seine zahlreichen Stillleben und die wenigen Genrebilder. Doch auf den sieben Seiten Suchergebnissen befindet sich vor allem holländische Genremalerei, mit der man vielleicht in solcher Fülle nicht gerechnet hätte. Denn, auch wenn bekannt ist, dass Jean Simeon Chardin (1699-1779) sich von der flämischen Malerei hat inspirieren lassen, sind in der Forschung bislang zunächst die Stillleben als Vergleich bei Recherchen hinzugezogen worden und gelegentlich Frauenfiguren bei Hausarbeiten in der Genremalerei. Hingegen wird jetzt deutlich, dass vor allem aus Flandern die Küchenszenen des Barocks die Atmosphäre teilen. So als ob Chardin die bäuerlichen Figuren ausgespart und sich dem Hausrat aus diesen Bildern gewidmet hätte. Daraus hat er einen eigenen Stil entwickelt und ein malerisches Universum geschaffen, in dem seltene und verhaltene Menschensilhoutten zwischen scheinbar beseelten Gegenständen agieren. Dass genau dieser Aspekt seiner Kunst – vermutlich auf dem Umweg von Stichen – dem niederländischen Barock entlehnt werden konnte, ergänzt substantiell das Bild des französischen Malers in der Geschichte der Kunst.

 

Schließlich habe ich das Suchfeld auf www.iart.vision mit dem Begriff „unicorn“ versehen und über die Ergebnisse gestaunt. Nein, das Einhorn in der Geschichte der Kunst, ist nicht oder nicht nur mit vornehmen Damen, Turinieren und kostbaren Interieurs in Verbindung zu bringen, sondern eher mit Tierdarstellungen wie mit Böcken, Rindern und weißen Pferden. So war es zunächst vermutlich eher mit grotesken Figuren im Gefolge von Bacchus assoziiert, als mit zart besaiteten Wesen der mittelalterlichen Minne. Auf jeden Fall aufgrund der Suchergebnisse des iART-Tools kann man von einem wechselhaften und ungewöhnlichen Werdegang des Motivs in der Kunstgeschichte Europas ausgehen.

 

Hier geht es zum DFG-Projekt „iART“ auf der Seite des Instituts für Kunstgeschichte der Maximilians-Universität in München.

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Aktuell: DigAMus-Award 2021 – digitale Angebote von Museen zwischen Natur und Kultur

Knapp zehn Tage ist es her, dass die Gewinner des diesjährigen DigAMus-Award bekannt gegeben wurden. Die zwei Jahre junge Auszeichnung ist für die digitalen Angebote von Museen im Internet wichtig und sie beherrscht mit ihrem Ablauf – Einreichung nach Kategorien, Einbeziehung des Publikums für einen gesonderten Preis, Auswahl der Short-List, Verleihung der Awards – einige Monate lang das Leben der (vorerst nur deutschsprachigen) Museen. Newsletter von Kulturagenturen, Wortmeldungen in den sozialen Medien, Blogbeiträge von Kunst- und Kulturakteuren begleiten konstant dieses Ereignis von seinen Anfängen (im Spätsommer) bis zum Höhepunkt und Ausklang (im Herbst). Das Echo des DigAMus-Award klingt auch danach nicht ab – obwohl es ein wenig abnimmt -, weil die digitalen Beiträge der Museen immer und von überall aus das ganze Jahr über auf der Seite des – im Bereich digitale Kulturvermittlung – jetzt schon rennomierten Preises einsehbar sind.

 

Der Preis wurde in fünf Kategorien – Apps & Games, Hybrides Angebot, Webseite oder Online-Ausstellung, Social-Media-Aktionen, Podcasts – verliehen, hinzu kamen noch drei Sonderpreise – Sonderpreis Kleines Budget, Sonderpreis Inklusion & Interaktion und Publikumspreis. Fast alle preisgekrönten Einreichungen thematisieren – im Gleichtakt mit der alles beherrschenden Debatte in Politik und Gesellschaft -, direkt oder indirekt Mensch und Natur in ihrer Vergänglichkeit und der damit zusammenhängenden Verwandlung. Dabei widmen sich manche Beiträge – wie die Social-Media-Aktion des Museums Burg Posterstein in Thüringen #Garteneinsichten oder die App des Neanderthal-Museums in Mettmann „Neanderthal: Memories“ – ganz dem Thema Leben in der Natur, während andere – wie das Neu-Ulmer „Edwin-Scharff-Museum“ mit der Ausstellung „Architektierisch“ und/oder das Staatliche Museum für Archäologie in Chemnitz (smac) mit dem inklusiven Angebot „Die Stadt. Zwischen Skyline und Latrine“ – das Zusammenwirken von Natur und Kultur in den Vordergrund stellen. Selbst der äthiopische Mantel, der von dem Museum Villa Freischütz in Meran in einem Podcast gewürdigt wurde, spricht durch Farbgebung und Dekor, implizit über die Natur entfernter Regionen und vergangener Zeiten. Sicher steht aber bei diesem Exponat – wie auch bei dem Beitrag des Züricher „Johann-Jacobs-Museums“, der in der Sparte Apps & Games ausgezeichnet wurde, „uiivit. Dinge von gestern. Heute verstehen.“ – das zweite aktuelle Thema der heutigen Kulturszene Europas, der Kolonialismus, im Vordergrund.

 

Wie eine Zusammenfassung dieser Mensch-Natur-Problematik wirkt bei dieser Auswahl die, in der dritten Kategorie mit Preis versehene Online-Ausstellung „Ich hasse die Natur“ der Klassik Stiftung Weimar. Als Ergänzung zu der gleichnamigen, analogen Ausstellung im Schiller-Museum gedacht, bleibt sie nun im digitalen Raum ein Echo des Jahresthemas 2021 „Neue Natur“, wobei der in Anlehnung an Thomas Bernhard entstandene Titel „‚Ich hasse die Natur!‘ Mensch – Natur – Zukunft“ die Ziele der Ausstellungsmacher*innen benennt. Keine Harmonie wird also vorgetäuscht, sondern ganz aktuell und provozierend der Tod in den Mittelpunkt gestellt. Es wird das Verhältnis zwischen Mensch und Natur als Kräftemessen in drei, mit Musik von Ekkehard Ehlers untermalten Kapiteln gezeigt.

 

Das erste Kapitel „Killing us softly (Weiterleben)“ zeigt die menschliche Vergänglichkeit anhand von Krankheit, Seuchen und Tod. Die Natur scheint mit ihrer Kraft über die Menschen zu bestimmen,  die ihr ein religös geprägtes Weltbild und den damit verbundenen Glauben von einem Leben nach dem Tod entgegenstellt. Totenmasken, realistische Krankheitsbilder und Requisiten des Alters beleben dabei visuell die schriftlichen Ausführungen. Im zweiten Kapitel „Destroy (Zerstörung)“ scheinen Natur und Kultur in einem zerstörerischen Kampf zu liegen, aus dem es kein Entkommen gibt. Bilder der Vergangenheit, aber auch Arbeiten moderner Kunst illustrieren einerseits die Zerstörung der Natur durch Menschen und, andererseits die Wiederkehr der Natur im ehemaligen, menschlichen Lebensraum. Ergreifend sind hierbei die Fotos Flo Döhmers über den Verfall und über das Vergessen von beispielsweise Prypjat (bei Tschernobyl), aber auch die Arbeit „Library“ der amerikanischen Künstlerin Lori Nix, in der Bäume und Bücher ad litteram gegenüber gestellt werden und eine nostalgische Einheit in einem vorgestellten, hybriden Raum der Zukunft bilden.

 

Im dritten Kapitel der digitalen Ausstellung „A Reflexion (Panta rhei)“ werden schließlich drei Modelle der Zukunft angerissen. Im einen Modell wird ein Fortleben des jetzigen Anthropozäns, des konfliktbeladenen Zusammenspiels von Mensch und Natur imaginiert. Ein nächstes postuliert ein Zeitalter – Dendrozän -, in dem der Mensch verschwindet und die Natur die Oberhand gewinnt. Das letzte Szenario gilt dem Novozän, in dem weder Mensch noch Natur sondern eine künstliche Intelligenz die Welt erobert und beherrscht. Besucher des virtuellen Raums können am Ende einem Podcast mit dem Titel „Back to the Future“ folgen, in dessen Verlauf zwei Medienwissenschaftler von der Universität Bonn – PD Dr. Christoph Ernst und Prof.Dr. Jens Schröter – auf einige Fragen des Publikums antworten, über die verschiedenen, hier aufgezählten Zukunftsszenarien sprechen und zu weiterführenden Diskussionen anregen.

 

 

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„Let’s Visit Museum Collections. What can we gather about the data?“

Am 10. Juni 2021 fand im Rahmen des Kulturdaten-Kolloquiums SoSe 2021 an der Universität Potsdam, Netzwerk Digitale Geisteswissenschaften, ein Workshop unter dem Titel „Let’s Visit Museum Collections. What can we gather about the data? Chapter 2“ statt. Die Sitzung wurde von Dr. Dennis Mischke, Research Coordinator Digital Humanities an der genannten Universität, moderiert. Das erste Kapitel der Veranstaltung gleicher Überschrift war bereits während der ersten Eventtage der #vDHd2021 – Experimente, am 25. März 2021, abgehalten worden. Wer die ersten Eventtage der #vDHd2021 vom letzten März verpasst hat, aber an diesem Workshop interessiert gewesen wäre, kann sich aus der in Englisch verfassten Ankündigung ein Bild machen.

Im Kern geht es darum, dass unzureichende Kulturdaten auf der Online-Plattform von Museen gelangen und mehr oder minder zufällig dominante Narrative generieren, die nicht selten aus einer anderen Zeit stammen. Im März wurden diese Bias ausführlich in Workshops dargestellt und mit den Teilnehmern besprochen. Referiert haben Rida Arif von Cultural Advocacy Lab, Andrea Scholz vom Etnologischen Museum Berlin, Thiago da Costa Oliveira vom Botanischen Garten und Botanischen Museum Berlin sowie Lukas Fuchsgruber und Meike Hopp von der Technischen Universität Berlin. Es wurden zur Diskussion gestellt Plattformen wie CyArk and Google Arts & Culture, die Seite vom Ethnologischen Museum  im Zusammenhang mit spezialisierten Datenbanken wie GBIF and JACQ, die digitale Sammlung der Staatlichen Museen zu Berlin ( SMB-Digital) sowie ausgewählte Internetseiten wie sammlung.pinakothek.de, sammlungonline.kunstmuseumbasel.ch, rijksmuseum.nl/en/rijksstudio oder britishmuseum.org.

Leider konnte ich die Ergebnisse des virtuellen März-Treffens im Internet nirgends finden, aber die o.g. Veranstaltung der Universität Potsdam war im Juni 2021 sehr aufschlussreich. Wenn für Kenner die – oftmals aus den vergangenen Jahrhunderten stammenden – und in letzter Zeit verstärkt online gestellten Karteikarten eines Museums lediglich zur groben Orientierung dienen, sind sie für Fachfremde, die nicht selektiv und korrektiv vorgehen, einzige und alleinige Informationsquelle zu einem Exponat. Es entstehen vielfach Missverständnisse über den Bestand eines Museums und über die vertretenen Werte einer Gesellschaft. Auf diese Dissonanzen machten sehr überzeugend die Panelistinnen Sara Akhlaq von der Fachhochschule Potsdam und Sarah Kreiseler von der Leuphana Universität Lüneburg aufmerksam.

Natürlich stellt sich die Frage, wie diese ziemlich weit verbreitete Schieflage schnell und mit Erfolg behoben werden kann, sprich: wie können Kulturdaten (auch Metadaten auf Museumsseiten) so kontextualisiert werden, dass sie für ein breites Publikum zeitgenössische Fragen beantworten und nicht von einer längst vergangenen und ziemlich verstaubten Welt erzählen? Es wäre vielleicht nicht verkehrt, bereits an dieser Stelle des Kultursektors zu investieren, bevor weitere und wohl umfangreichere Ausgaben anstehen, wenn diese unvollständigen Daten in die nationale Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) einfließen werden. Eine Lösung für diesen speziellen Fall der Kontextualisierung von Museumsdaten wäre sicherlich die Anstellung von Fachpersonal oder zumindest der Rückgriff auf die Crowd mittels von Spielen wie ARTigo. Auf jeden Fall wird mit Blick auf die erwähnten Workshops auch für Außenstehende verständlich, wenn – wie Mitte Juni d.J. – auf Twitter von @ArchivesAreCool und von @_omwo unter #archivesproblems über die Digitalisierung von Archivmaterial ironisch getweetet wird.

Der Verband  Digital Humanities im deutschsprachigen Raum e.V. organisiert die 8. Jahrestagung der Digital Humanities im März 2022 (@dhd2022) in Potsdam unter dem Titel „Kulturen des digitalen Gedächtnisses“. Hier geht es zum Call for Papers mit Deadline 15. Juli 2021.

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Influencer*innen Trendsetter*in

Trendsetter*innen und Influencer*innen gelingt Kunstvermittlung digital

Sucht man heutzutage im Internet nach Maßstäben in beliebigen Bereichen des Alltags, findet man recht schnell die Begriffe „Influencer“ und „Trendsetter“. Während Trendsetter als jemand beschrieben wird, der „etwas Bestimmtes allgemein in Mode bringt“ beziehungsweise „einen Trend auslöst“, ist der Begriff „Influencer“ strenger an die Vermarktungsqualität gebunden. „Influencer“ werden – laut Wikipedia – „seit den 2000er Jahren Personen bezeichnet, die aufgrund ihrer starken Präsenz und ihres hohen Ansehens in sozialen Netzwerken als Träger für Werbung und Vermarktung in Frage kommen.“

Sieht man von dem Gewinn für die Wirtschaft (vorläufig) ab, sind Museen und Kulturinstitutionen auf dem besten Weg dahin, dank kunsthistorischer Influencer*innen zu Trendsetter der digitalen Welt zu werden. Sicher sind die Vorläufer dieser Eigenschaft in der analogen Welt zu finden. Durch ständige oder regelmäßige Ausstellungen gelingt es Museen – wie kaum anderer Institutionen – seit je her, Themen für kulturelle oder gesellschaftliche Diskussionen zu stellen und sogar langfristige Trends zu setzen und Wandlungsprozesse in Kunst, Kultur und Gesellschaft zu bewirken und/oder zu begleiten.

Hier ist Vieles zu nennen, doch nicht der richtige Ort für tiefere Analysen von Kunstepochen oder Entwicklungen einzelner Künstler. Es ist bekannt, dass die europäische Renaissance mit der Entdeckung und Begegnung der Künstler mit antiken Denkmäler einherging. Auch der Salon des Refusés 1863 in Paris ist ein bekanntes Ereignis der Kunstgeschichte. Schließlich jedoch nicht zuletzt sind die Aktionen von Künstlern der Dada-Bewegung tief in das Bewusstsein der europäischen Kunstwelt und zugleich der bürgerlichen Gesellschaft eingeschrieben.

Seien es nun die Bibliotheken des Mittelalters, die Kunstsammlungen italienischer Mäzene, die Kuriositätenkammern barocker Fürsten oder schlicht die Bildergalerien der Neuzeit, immer waren die Kunstwerke von Museen oder von ihren Vorläufern in der Lage, Betrachter zu beeinflußen, Wandlungsprozesse in Gang zu setzen und natürlich Trends zu bestimmen. In der digitalen Welt schienen die meisten Museen bislang, diese wichtige Rolle zu vernachlässigen oder in den Hintergrund zu drängen. Nur wenige wurden hierzulande – wie das Städel Museum in Frankfurt am Main – ihrer Berufung gerecht und gestalteten mit den Besuchern den digitalen Raum.

Nun scheint aber die Monacensia im Hildebrandhaus in München Bogenhausen diese Hürde so genommen zu haben, dass sie für weitere Kulturinstitutionen als Beispiel gelten kann. Mit einem kooperativen Forschungsprojekt zum Kulturerbe gelang es Anke Buettner (seit 2019 Leiterin des Hauses) Ende des vergangenen Jahres eine Kernaufgabe von Museen und Archive – zu erinnern – in den Mittelpunkt der Arbeit und der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zu rücken. „Mit einem auf fünf Jahre angelegten kooperativen Forschungs- und Vermittlungsprojekt nimmt die Monacensia im Hildebrandhaus Lücken im literarischen Gedächtnis der Stadt in den Blick“, heißt es auf der Internetseite der Münchner Stadtbibliothek.

„Gleichzeitig erprobt sie neue Formen der Erinnerungskultur und der Kulturvermittlung“, steht es weiter im Text. Diesem Vorhaben wurde die Institution schon mit einem ungewöhnlichen Projektauftakt gerecht. Mit einer Blogparade „Frauen und Erinnerungskultur / #femaleheritage“, die am 11. November 2020 unter der Federführung von Dr. Tanja Praske startete, ging „ein Aufruf zur Vernetzung und zum Dialog über Texte und Lebensentwürfe von Frauen, über das Thema Gender und Parität im kulturellen Gedächtnis.“

Den Akteuren in Kunst- und Kulturbereich ist Tanja Praske wegen dem Blog „Kultur Museum Talk. Kunst, Kultur & Social Media“ und ihrer starken Präsenz in den sozialen Medien, in denen sie für die Sache der Kunst und Kultur plädiert, schon seit mehreren Jahren ein bekanntes Gesicht. Ihren Aufrufen zu Blog-Paraden sind seit 2013 von Jahr zu Jahr immer mehr Kultur-Bloggende gefolgt und haben ein breites Publikum im Netz erreicht. Es ist somit nicht verkehrt, sie als Influencerin zu bezeichnen, die ein ursprünglich zaghaftes und gebrechliches Kunstvermittlungskonzept über die sozialen Medien zum Erfolg für die Kunst- und Kulturdebatte im Land gebracht hat.

Im Falle des Aufrufs #femaleheritage der Monacensia sind in einer relativ kurzen Zeitspanne (vom 11. November bis 09. Dezember 2020) über 150 Blogbeiträge veröffentlicht worden, in denen an eine oder an mehreren Frauen vorwiegend aus der Geschichte der Kunst und Kultur erinnert wird, die eine wichtige, bisher totgeschwiegene Rolle gespielt haben. Doch, wie Anke Buettner unter #femaleheritage schreibt: „Es ist nicht die schiere Zahl der Beiträge zur Blogparade ‚Frauen und Erinnerungskultur‘, die uns so beeindruckt. Es ist der Fakt, dass uns ein partizipatives Projekt mit großteils unbekannten Menschen hautpsächlich im deutschsprachigen Raum gelungen ist.“

Hier geht es zur Blogparade #femaleheritage: https://blog.muenchner-stadtbibliothek.de/frauen-und-erinnerungskultur-blogparade-femaleheritage/

Hier geht es zum Blog und zum Social-Media-Profil von Dr. Tanja Praske: https://www.tanjapraske.de

Hier geht es zum Echo von Sabine Buchwald in der SZ vom 27. Januar 2021: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/monacensia-spuren-von-kuenstlerinnen-und-kaempferinnen-1.5187217