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Digital Culture Summit 2023 in Köln, nicht verpassen (IV.)

Am 25. und 26. September 2023 findet in Köln im KOMED, Zentrum für Veranstaltungen im MediaPark Köln, anlässlich des 10jährigen Jubiläums der Pausanio Akademie, ein erstes Digital Culture Summit statt. Eine Teilnahme vor Ort wie auch eine digitale Teilnahme sind noch gegen die Entrichtung einer Gebühr, die auf finanzschwache Teilnehmer*innen Rücksicht nimmt (199,- €/159,- € bzw. 149,- €/119,- €), möglich. Ein Blick auf das Programm der Tagung verspricht interessante Impulse für all jene Akteur*innen, die im digitalen Zeitalter in der Kultur tätig sind oder es sein wollen.

Nach Grußwörtern (Ina Brandes, Andree Haack und Prof.Dr. Holger Simon) und Einführung in das Thema (Dr. Felicia Sternfeld und Dr. Annette Doms) werden am ersten Tag der Stellenwert der digitalen Kompetenz in Kultur (Dr. Christian Gries und Dirk von Gehlen), die neuen, durch digitale Transformation generierten Arbeitsweisen (Paul Spies, Miriam Mayer-Ebert und Beate Lex) sowie das Verhältnis von Mensch und Maschine (Reinhard Karger, Dr. Tabea Golgath und Prof.Dr. York Sure-Vetter) umrissen werden. Der zweite Tag ist dann dem Publikum im digitalen Zeitalter (Prof.Dr. Patricia Rahemipour, Marcus Lobbes, Melanie Lauer und Constantin Pelka), der zu verändernden Kulturinstitutionen (Dr. Doreen Mölders, Dennis Wittrock und Michael Wuerges) und den neuen Leitprinzipien in kulturellen Organisationen (Diandra Donecker und Julia Becker) gewidmet. Parallel zum Bühnenprogramm gibt es Masterclasses zur neuen, Inter-Pares-Zusammenarbeit in Institutionen als eine Arbeit auf Augenhöhe (Dennis Wittrock), zum Einsatz von künstlicher Intelligenz im Kulturmarketing (Holger Kurtz), zum Fundraising in der Kultur (Sophia Athié) und zu dem aktuellen Urheberrecht (Prof.Dr.Dr. Grischka Petri).

Ziel der Veranstaltung ist es jene Kräfte in Kultur zu bündeln, die eine digitale Offensive für notwendig halten, die ausstehenden Erneuerungen anzustoßen und die Digitalität im Zentrum kulturellen Lebens zu stellen. Eine Teilnahme vor Ort ist nicht notwendig, aber empfehlenswert, um das Netzwerk zu stärken und nicht zuletzt, um am 25.09. nach 18:00 Uhr an der Party mit kölschem Büffet teilzunehmen. Wenn für Kulturakteur*innen Köln zu weit liegt, ist wenigstens eine digitale Teilnahme wichtig, um sich mit den aktuellen Fragen der Branche vertraut zu machen und auf das Material der Tagung wann immer zurückgreifen zu können.

Eine visuelle Überraschung auf der Tagung wird das Projekt der Künstlerin Meral Alma sein, das später für einen guten Zweck im Bereich der digitalen Bildung gespendet wird.

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Flowers Forever in der Kunsthalle München (2. Teil)

Zwischen dem Bereich realer Pflanzen und jenem der Blumen in der Kunst befindet sich ein Raum, in dem Phantasieblumen an den Wänden projiziert werden. In der Installation von Miguel Chevalier (*1959) erschafft künstliche Intelligenz Blumen, lässt sie gedeihen und wieder welken. Keine der Pflanzen escheint zwei Mal und die Besucher in dem Raum beeinflussen die Projektion.

In einem der beiden großen Säle der Kunsthalle gibt es historische Blumenstillleben, zeitgenössische Werke, die mit den älteren Bildern in Dialog treten und Arrangements künstlicher Blumen. Ein Millefleurs-Wandteppich des 16. Jahrhunderts aus Belgien, ein blau-weißes Kachelbild mit Blumenvase ungefähr der gleichen Zeit aus Damaskus harmonieren mit einem Tulpenkabinett aus der Mitte des 17. Jahrhunderts von Herman Doomer (1595-1650) aus Amsterdam.

Herman Doomer (ca. 1595-1650), Tulpenkabinett, ca. 1635-1650, Zedernholz, Ebenholz, Elfenbein, Permutt, Museum Boljmans Van Beuningen, Rotterdam
Herman Doomer (ca. 1595-1650), Tulpenkabinett, ca. 1635-1650, Zedernholz, Ebenholz, Elfenbein, Permutt, Museum Boljmans Van Beuningen, Rotterdam

Anna Ridler (*1985) greift das Motiv der Tulpe auf, um in einer Videoinstallation (Mosaikvirus) das Phänomen des Bitcoin zu thematisieren. 1637 führte der spekulative Tulpenhandel in den Niederlanden zum ersten Crash der Wirtschaftsgeschichte. Weder Tulpen noch Bitcoins haben einen reelen materiellen Wert. In der Arbeit schließen und öffnen sich Tulpen entsprechend den Schwankungen des Bitcoin während des Martktes 2017/18. Der Titel bezieht sich auf ein Virus, das die Musterung der Tulpen verursacht.

Anna Ridler (*1985), Mosaikvirus, 2019, 3-Kanal-GAN-Videoinstallation, Farbe, ohne Ton, 30 Min., Seamless Loop, Courtesy Anna Ridler und Galerie Nagel Drexler Berlin / Köln / München
Anna Ridler (*1985), Mosaikvirus, 2019, 3-Kanal-GAN-Videoinstallation, Farbe, ohne Ton, 30 Min., Seamless Loop, Courtesy Anna Ridler und Galerie Nagel Drexler Berlin / Köln / München

An das überladene Zeitalter des Barock wird vor allem durch ein Lackkabinett (ca. 1690-1700) aus England oder den Niederlanden erinnert. Unter Einfluss orientalischer Möbelstücke wurden solche Schränke auch in Europa angefertigt, um an Fürstenhöfen die teuren Sammlungen an Kuriositäten aufzubewahren. Die Blumendarstellung in diesem Beispiel weist auf die zeitgleichen Stillleben mit Vanitas-Anklängen hin.

Unbekannt (England oder Niederlande), Lackkabinett, ca. 1690-1700, Holz, lackiert und bemalt, Gestell: Lindenholz vergoldet, Salomon Stadel, Amsterdam
Unbekannt (England oder Niederlande), Lackkabinett, ca. 1690-1700, Holz, lackiert und bemalt, Gestell: Lindenholz vergoldet, Salomon Stadel, Amsterdam

Eine Glasvitrine an einer Seite vor der Wandtapete „Der Garten der Armida“ am Ende des Saales, die auf der Pariser Weltausstellung von 1855 präsentiert wurde, vereint mehrere, kostbare Art-Nouveau-Objekte und ihre Ausläufer im 20. Jahrhundert. Émile Gallé (1846-1904) und René Lalique (1860-1945) fehlen natürlich nicht bei dieser Auswahl, genausowenig wie der Goldschmied Lucien Gaillard (1861-1942) und die Manufaktur Frédéric Goldscheider (gegr. 1855). Unvergessen bleibt die Parfümflasche für Christian Dior (1956) von Hand geschnitten von Baccarat mit einem Aufsatz in Form eines goldenen Blumenornaments.

Baccarat, Parfümflasche für Christian Dior, 1956
Baccarat, Parfümflasche für Christian Dior, 1956

Ein Bühnenbild-Model aus der Uraufführung der Oper „Parsifal“ von Richard Wagner von 1882 in Bayreuth gewinnt in einem angrenzenden kleinen Raum durch die romantische Schönheit die Aufmerksamkeit von Besuchern. Das in Köln aufbewahrte Modell zeigt „Klingsors Zaubergarten“, in dem viele Gralsritter vor Parsifal von Blumenmädchen verführt wurden. Wagners Held widersteht jedoch und gelangt am Ende des Aktes in den Besitz des gesuchten, heiligen Speers.

Paul von Joukowsky (1845-1912), Entwurf / Max Brückner (1836-1919), Ausführung. Bühnenbild-Modell für "Klingsors Zaubergarten" der Uraufführung von Richard Wagners "Parsifal" in Bayreuth, 1882. Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln.
Paul von Joukowsky (1845-1912), Entwurf / Max Brückner (1836-1919), Ausführung. Bühnenbild-Modell für „Klingsors Zaubergarten“ der Uraufführung von Richard Wagners „Parsifal“ in Bayreuth, 1882. Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln.

Nicht unerwähnt darf in dem zweiten großen Ausstellungssaal, neben mehreren zeitgenössischen Arbeiten mit originellen und vor allem sozial-kritischen Anwendungen des Blumen-Motivs, die Bühne der Flower-Power-Bewegung des 20. Jahrhunderts. Zwischen einigen Kleidungsstücken, die damals Kult waren, überraschen durch ihre Frische ein Siebdruck von Andy Warhol (1928-1987) und eine periodisch leuchtende Metalskulptur von Otto Piene (1928-2014).

Der Parcours neigt sich dem Ende zu mit einer Arbeit der Künstlerin Kapwani Kiwanga (*1978), die auf das eingangs erwähnte Buch der Naturforscherin Maria Sibylla Merian (1647-1717) „Metamorphosis insectorum Surinamensium“ (1705) Bezug nimmt. „Die Marias“ sind abgewandelte Formen des Pfauenstrauchs, einer Blume, die in Indonesien als natürliches Abtreibungs- und Verhütungsmittel von versklavten Frauen genutzt wurde. Kiwanga inszeniert die Blume als Symbol des Widerstands von Frauen, die in der Kolonialzeit auch sexueller Gewalt ausgesetzt waren.

Kapwani Kiwanga (*1978), Die Marias, 2020, Papier, Holz, Farbe. Courtesy the artist and Goodman Gallery, Capetown, Johannesburg, London; Galerie Poggi, Paris; Galerie Tanja Wagner, Berlin.
Kapwani Kiwanga (*1978), Die Marias, 2020, Papier, Holz, Farbe. Courtesy the artist and Goodman Gallery, Capetown, Johannesburg, London; Galerie Poggi, Paris; Galerie Tanja Wagner, Berlin.

Abschluss der Ausstellung ist eine Installation der britischen Künstlerin Rebecca Louise Law unter dem Namen „Calyx“ (Blütenklech). Dafür haben Freiwillige mehr als 100 000 Blumen, die sonst weggeworfen worden wären, getrocknet und gebunden. Die hängenden Blumen bilden ein kleines Labyrinth mit mehreren Öffnungen, das man passieren kann. Es erinnert ein wenig an die Gartenkulissen des Barock, an Bühnenbilder mit regnenden Blumen ist aber zugleich ein zeitgenössisches, begehbares Kunstwerk getreu dem Prinzip der Nachhaltigkeit.

Rebecca Louise Law (*1980), Calyx (Blütenkelch), 2023.
Rebecca Louise Law (*1980), Calyx (Blütenkelch), 2023.

Die Ausstellung „Flowers Forever“ in der Kunsthalle München ist in jeder Hinsicht eine sehenswerte Schau und eine gute Überraschung. Unter Einfluss der gegenwärtigen, virtuellen Sinnesrausch-Räumen zu verschiedenen Themen der Kunst, die überall in Europa und Amerika entstehen, habe ich eher eine Ausstellung mit prächtigen analogen und digitalen Blumenarrangements und weniger Wissen erwartet. Das hat sich erfreulicher Weise nicht bestätigt. Bis Ende August 2023 kann man noch in der Münchner Kunsthalle eine gut dokumentierte und schön präsentierte Ausstellung besuchen und viele Informationen und viele inspirierende Eindrücke mitnehmen.

 

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Flowers Forever in der Kunsthalle München (1. Teil)

Nein, die Tulpen kommen nicht aus Holland! Die Tulpen kommen aus Persien, unweit des Kaspischen Meeres. Das zeigt eine der wahrscheinlich schönsten Weltkarten, die es überhaupt gibt und die man zur Zeit in der Ausstellung „Flowers Forever. Blumen in Kunst und Kultur“ in der Kunsthalle München sehen kann. Es ist eine Lithographie von Ned Seidler (1922-2007) von 1968, die gleich am Eingang in die Ausstellung hängt und für diese Kunstschau mit Zustimmung von National Geographic vergrößert und auf Stoff gedruckt wurde. Die Weltkarte zeigt die Herkunft von Blumen weltweit, unter anderem auch jene der heute sehr verbreiteten Tulpe.

Ned Seidler (1922-2007), Map showing the Origin of Flowers, 1968, Detail.
Ned Seidler (1922-2007), Map showing the Origin of Flowers, 1968, Detail.

Ein paar Schritt weiter sieht man auf einem Bild des 19. Jahrhunderts schon das in Europa vertraute Tulpenfeld in den Niederlanden, in einer Version mit weißen und gelben Blumen vor einer grünen Hecke. Eine an die Bauern von François Millet (1814-1875) erinnernde Frauengestalt inmitten des Feldes blickt  auf die jungen, prachtvollen Pflanzen, die bis zu den Knöcheln reichen. (George Hitchcock (1850-1913), In den Haarlemer Tulpen, ca. 1895, Öl auf Leinwand, Albertinum / Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden.)

Eine benachbarte Nahaufnahme lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die verborgene Sprache von Pflanzen. Anders als ursprünglich angenommen, sind Blumen nicht stumm. Es gibt eine Fülle von Reizen, durch die sie mit ihrer Umwelt kommunizieren. Eine kleine, blaue, fast unscheinbare Blume – das Lungenkraut – besitzt die Fähigkeit ihre Farbe von Rosa auf Blau zu ändern, sobald sie keinen Nektar mehr enthält. Damit sparen Insekten auf der Suche nach Nahrung wertvolle Zeit.

Jan Haft (*1967), Lungenkraut, 2019, Video, Farbe, kein Ton, 0,35 Min., Loop, nautilusfilm GmbH
Jan Haft (*1967), Lungenkraut, 2019, Video, Farbe, kein Ton, 0,35 Min., Loop, nautilusfilm GmbH

Der folgende kleine Raum der Ausstellung widmet sich der Allegorie. In der langen Geschichte der Kunst wurden Blumen oft mit schönen Frauen in Verbindung gebracht. Ganze Generationen von Künstlern widmeten sich dieser Gattung des Porträts, in der Schönheiten berühmter Königshöfe in die Rolle mythologischer Gestalten schlüpften. Heute noch strahlt die junge Marquise de Baglion (Angélique Louise-Sophie d’Allouville de Louville (1710-1756)) von einem Bild des berühmten Malers des Rokoko Jean-Marc Nattier (1685-1766) als zarte Flora in sanftem Abendlicht.

Jean-Marc Nattier (1685-1766), Die Marquise de Baglion als Flora, 1746, Öl auf Leinwand, Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Alte Pinakothek, Dauerleihgabe der Kunstsammlung HypoVereinsbank - Member of UniCredit
Jean-Marc Nattier (1685-1766), Die Marquise de Baglion als Flora, 1746, Öl auf Leinwand, Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Alte Pinakothek, Dauerleihgabe der Kunstsammlung HypoVereinsbank – Member of UniCredit

Die religiöse Kunst und die Botanik sind zwei Bereiche, denen die Ausstellung einige Exponate widmet, weil sie im Laufe der Zeit phantasievolle Kunstobjekte generiert haben. Der symbolische Gehalt von Blumendarstellungen einerseits und die genaue Kenntnis der Erscheinungsform in der Natur andererseits haben bekannte Werke in der Geschichte der Kunst entstehen lassen.

In der christlichen Religion tauchen Blumen vor allem in Verbindung mit dem Marienkult auf. Doch auch im Orient sind Gottheiten oft mit Blumen geschmückt und der im Westen verbreitete Orientteppich verweist mit seinen geblümten Mustern nicht selten auf das Millefleurs-Gebetsteppich und damit auf das Paradies.

Carlo Dolci (1616-1666), Madonna mit der Lilie, 1649, Öl auf Leinwand, Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Alte Pinakothek
Carlo Dolci (1616-1666), Madonna mit der Lilie, 1649, Öl auf Leinwand, Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Alte Pinakothek

Die Kuratoren der Ausstellung haben in dem der Botanik gewidmeten Teil Maria Sibylla Merian (1647-1717) nicht vergessen, der berühmten Zeichnerin des 17. Jahrhunderts von Flora und Fauna der nierderländischen Kolonie Surinam. Eine aufgeschlagene Seite aus dem zweibändigen Buch von 1679/1683 über Verwandlung und Nahrung von Schmetterlingen zeigt eine dicke Raupe am Fuße einer zarten Blume in Hellrosa. Unweit davon sind die botanischen Studien von Girolamo Pini (17. Jahrhundert) ausgestellt, die die Vielfalt an Pflanzen in den florentinischen Gärten der Medici-Familie dokumentieren.

Girolamo Pini (17. Jahrhundert), Botanische Studien, 1615, Öl auf Leinwand, Musée des Arts Décoratifs, Paris
Girolamo Pini (17. Jahrhundert), Botanische Studien, 1615, Öl auf Leinwand, Musée des Arts Décoratifs, Paris
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Jean Siméon Chardin…

… ist einer der sinnlichsten Maler, die ich kenne. Trotzdem zögern die Veranstalter neuer Lichtspiele mit Kunst, mit seinen Werken Räume zu gestalten. Zumindest habe ich bisher nicht gehört oder gesehen, dass einer der zeitgenössischen Ausstellungsmacher (wie das Atelier des Lumières in Paris) seine Gemälde auf große Flächen projiziert hätte. Dabei wurden die Impressionisten, die sich von Chardin bekanntlich maßgebend inspiriert haben lassen, schon mehrfach in diesen neuen Galerien thematisiert. Warum also nicht auch einer ihrer Vorgänger?

In seinen stillen Genrebilder – wie das bekannte „La Bénédicité“ (1725/50), auf der Seite des Louvre unter: https://collections.louvre.fr/ark:/53355/cl010059556 zu sehen oder „La Pourvoyeuse“ (1739) unter: https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010059178  – würde man sich trotz der Bescheidenheit des Raums gut aufgehoben fühlen. Die Frauengestalten sind leicht melancholische Wesen, deren Wärme sich in ihrer – meist kargen – Umgebung, der Küche oder der dependances ausbreitet. Kinder und Jugendliche in seinen Gemälden sind kleine, elegante, brave und musisch begabte Abbilder der verhaltenen Erwachsenenwelt. Die Ruhe dieser häuslichen Welt scheint Chardin mehr fasziniert zu haben, als alles andere.

Abseits lauter Marktbilder entstanden auch seine Stillleben mit einfachen „Zutaten“ wie Pflaumen, Pfirsiche, Kupferkessel, Silberbecher und Weinflaschen auf breiten Steinplatten. Eine schöne Sammlung davon besitzt der Louvre und man wird nicht satt, diese kleinen Bilder der kulinarischen Vollkommenheit zu betrachten:

„Panier de pêches, avec noix, couteau et verre de vin“ (1768) – https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010059177

„Ustensiles de cuisine, chaudron, poêlon et oeufs“ (1733) – https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010059558

Berühmt sind auch die zu kleinen oder größeren Mahlzeiten gedeckten Tische mit feinem Porzellan, seltenen Früchten und guten Speisen im diskret feierlichen Ambiente, wie: „Le Bocal d’olives“ (1760) – https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010059554 oder „La Brioche“ (1763) – https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010059552

Große Aufnahmen dieser und anderer seiner Gemälde würden wahrscheinlich die ruhige Atmosphäre der lichten Interieurs verstärken, vielleicht auch eine genaue Betrachtung des Farbauftrags und der Pinselführung ermöglichen und ein besseres Verständnis seiner Kunst herbeiführen. Das Ineinandergreifen der Malweise, des Weltbildes des Künstlers und der Einladung an den Betrachter, Teil dieser kleinen verzauberten Welt zu werden, wäre möglicherweise nachvollziehbar. Die Erfahrung der Intimität eines künstlerischen Universums wäre auch für den Besucher eine solchen Lichtausstellung ein willkommenes Erlebnis in einer rastlosen Zeit.

Umso schöner den geheimnisvollen Werdegang eines Malers zu verfolgen, dessen Karriere mit einem Rückgriff auf die flämische Barockmalerei und einem verhältnismässig „lauten“ Bild begann:

„La Raie“ (1728) – https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010065938

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… zurück zu Byzanz / unterwegs (Serie)

In den 1990er Jahren kehrte ich noch einmal thematisch zu Byzanz zurück, aber – aus heutiger Sicht betrachtet – nur um gründlicher Abschied zu nehmen. Die Abteilung Byzantinistik des Instituts für Altertumskunde der Universität zu Köln organisierte unter der Leitung von Professor Dr.Dr. h.c. Peter Schreiner (* 1940) im Frühsommer 1998 eine Reise nach Istabul, um einige der byzantinischen Denkmale zu besichtigen. Es gab Referate zu den Sehenswürdigkeiten und wir konnten viele Kenntnisse der Geschichte vor Ort besprechen.

Im Freundeskreis teilte ich mit, ich würde nach Konstantinopel fahren und war so aufgeregt, wie selten bei einer Reise in Ländern Europas. Die Erinnerungen sind sehr verblasst, aber einiges – wie die Bosphorus-Fahrt – ist so lebendig geblieben, als hätte die Exkursion gestern stattgefunden. Wir sahen und lernten viel über die Hagia Sophia, Hagia Eirene, über die Fussbodenmosaiken des alten Palastes, über den Hippodrom, über die Lateinerquartiere und Galata. Kalenderhane Camii, Süleyman Camii, Koca Mustafa Pasa Camii, Chora-Kirche, Pammakaristos, Polyeuktos, Lips-Kloster bekamen mit jedem neuen Tag mehr Substanz und wir freuten uns, über erhaltene und nicht mehr erhaltene Reste Neues zu erfahren.

Unter anderem wählte ich über die Kariye Camii (ehem. Chora-Kloster) zu referieren und blieb lange Zeit in Gedanken an dem teilweise erhaltenen, ikonographischen Programm. Interessant war nicht nur die Tatsache, dass es sich hierbei um das ausgedehnteste, in den ehemaligen Grenzen des byzantinischen Reichs erhalten Bilderzyklus handelt (übertroffen nur noch von San Marco in Venedig und Monreale auf Sizilien), sondern, dass es – als Grablege eines byzantinischen Gelehrten, Theodoros Metochites (cca. 1260-1332) – eine Komplexität der Themen aufweist, wobei der theologische Gehalt bislang unvollständig erschlossen bleibt. Die literarischen Quellen, aus denen die Bilder komponiert wurden, waren Szenen aus dem Alten Testament (mit Bezug auf Tod, Auferstehung und Leben nach dem Tod), aus dem Neuen Thestament (insbesondere Lukas-Evangelium) und Apokryphen – das sogenannte Protoevangelium des Jakobus, Evangelium des Pseudo-Matthäus und Marienevangelien.

Theodoros Metochites war Politiker und Regierungschef unter Andronikos II. Palaiologos (1282-1328), er veranlasste einen Neubau der Kirche und die Ausstattung mit Mosaiken und Wandmalereien sowie den Ausbau des Klosters und der Bibliothek. Nach seiner Verbannung nahm Metochites den Namen Theoleptos an, zog sich 1330 hier zurück und wurde zwei Jahre später hier bestattet. Das Bildprogramm könnte von ihm oder auch von Nikephoros Gregoras (1295-1359/61) entworfen worden sein. Die Themen waren das Leben Mariens, die Kindheit Christi, das Leben und Wirken Christi, Repräsentationsdarstellungen (wie der Pantokrator, das Stifterbild, Deesis und Heilige) und ein Festbildzyklus (im Naos nur noch die Koimesis erhalten). Ich erinnere mich, dass es sehr viel Spaß bereitete, die Szenen aus der Kindheit und der Jugend Mariens mit den apokryphen Texten zu vergleichen und ikonographische Verwandtheiten zu entdecken. Sicher müsste einer umfassenden Interpretation mehr als nur ein oberflächliches Referat zugrunde liegen, aber die Möglichkeit, den Gedanken des Stifters anhand der Mosaiken zu folgen, bewegte mich dazu, die Texte vor Ort zu lesen und auf die Details der Darstellungen aufmerksam zu machen.

Anfang Juni 1998 endete die erfolgreiche Exkursion. Zwei Jahre später verließ ich Köln und auch die Byzantinische Abteilung der Universität auf der Suche nach neuen Themen in der Geschichte der Kunst. Ohne Kenntnisse der griechischen Sprache konnte ich den ganzen Umfang von Byzanz nur erahnen, aber nie richtig verstehen. Ich sah mich damals nicht in der Lage, mir die Sprache zufriedenstellend anzueignen, so dass ich verschiedene Schriften im Original hätte lesen können. Außerdem wusste ich, dass die Kunst des Byzanz ein Fach der Lücken ist. Sicher arbeitet man in den historischen Wissenschaften immer mit Lücken, aber in Byzantinistik ist das nochmal schlimmer. Kaum etwas ist erhalten, vieles wurde zerstört, Spuren reichen meist nicht aus, um zusammenhängende Bilder zu ergeben. Vielleicht habe ich etwas versäumt, aber im Westen auch viel Neues erfahren.

Bilderquelle: Wikipedia, Chora-Kirche, 2023.

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Der Brunnen an der Schießgrabenstraße… / Brunnen in Augsburg (Serie)

… nennt sich Kesterbrunnen.  Der Name kommt von dem Rechtsrat Theodor Kester (1847-1906), der zusammen mit Friedrich Keller (1828-1910) und seiner Frau Luise (1836-1902) eine Stiftung gründete, die den Brunnen 1908 erwarb. Der Bildhauer August Pausenberger aus München schuf die schlichte Skulptur des bronzenen Jünglings mit Weinschlauch, aus dem ein Wasserstrahl fließt. Am 4. Mai 1909 wurde der Brunnen in der Nähe des Marienplatzes an seinem jetzigen Ort aufgestellt, während des Zweiten Weltkriegs – zum Einschmelzen für Kriegsmaterial nach Hamburg verfrachtet, woher es 1950 – auf einem Schrottplatz entdeckt – unversehrt zurückkehrte.

Es ist der erste Brunnen, den ich in diesem Frühjahr aufgedeckt sah. Ein rot blühender Frühlingsstrauch in der Nähe leitete mich zu einer Collage, als würde die Skulptur aus den Zweigen erstehen. Der nackte jünge Körper im antiken Kontrapost erinnerte mich im Vorbeigehen an den Doryphoros, dem bronzenen Speerträger des griechischen Bildhauers Polyklet (5. Jh. v.Chr.), der in römischen Marmorkopien bekannt wurde. Der erhobene linke Arm und die lockere Haltung ähnelt aber auch jenem des David (1501/04) von Michelangelo (1475-1564) in Florenz. Beide Vorgänger bilden aber ältere und kräftigere Körper ab, der Augsburger Jüngling lehnt sich in seiner Knabenhaftigkeit eher an Auguste Rodins (1840-1917)  „Ehernes Zeitalter“ (1875/76) an oder, noch eher, an den David (1440) des Donatello (1386-1466).

Alle hier genannten Statuen, die ich vor allem aus Abbildungen in Büchern kenne, sind mit dem schönen Knaben von Pausenberger verwandt. Die Reihe könnte auch noch durch andere Analogien ergänzt werden. Ob es zwischen dem Jugendstil des Kesterbrunnens und den älteren Werken eine reale Abhängigkeit besteht, könnte eine kunsthistorische Untersuchung ergeben. Wahrscheinlich müsste man hier auch Darstellungen von Jungen in dem Gefolge des griechischen Weingottes Dionysos heranziehen. Unabhängig davon ist aber die Allee, die der Brunnen eröffnet, eine kleine (natürliche und gedankliche) Oase inmitten eines belebten Zentrums der Stadt. Wer heute diesen Weg von oder zum Augsburger Königsplatz nimmt, zieht die vorübergehende Ruhe und einen kulturellen Abstecher dem Trubel der Stadt vor.

Ich gehe nicht ohne an den letzten Skandal um den David von Michelangelo in den USA zu denken. Die nackte Statue des Brunnens an der Schießgrabenstraße war ursprünglich mit zierlichen, abschraubbaren Weinblättern bedeckt. Das war aber 1909! Es verlor niemand den Posten wegen einer vermeintlichen Pornodarstellung. Und die zahlreichen Schüler des Augsburger Holbein-Gymnasiums, die täglich an dem Brunnen vorbeigehen, haben kaum einen Blick übrig für die verhaltene und diskrete Aktdarstellung in Bronze eines jungen Mannes mit Weinschlauch, aus dem ein Wasserstrahl fließt…

(Vgl. Schad M., Brunnen in Agusburg. Gondrom 1992, S. 62-65.)

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Zu Besuch in Köln / unterwegs (Serie)

Es ist ein seltsames Gefühl, Orte zu besuchen, in denen man einst gelebt hat. Irgendwie kennt man die besser als ein Tourist, irgendwie will man nach Hause, aber man bleibt im Status des Gastes gefangen. Mit Sehenswürdigkeiten kann man nicht viel anfangen, weil man sie in- und auswendig kennt, an Stellen, wo sich das Leben ehemals abgespielt hat, kann man nicht verweilen, man besucht sie lediglich von außen. Irgendwie ist man Tourist in der eigenen Vergangenheit, ein Besucher des eigenen Lebens.

Ich bin relativ oft in Köln, in der Stadt, in der in den 1990er Jahre gelebt habe. Jedes Mal gehe ich den Dom und mache immer die gleichen Bilder vom Hauptschiff, vom Querhaus, vom Chorraum. Ich kann mich an dem Licht nicht satt sehen, den großen geschlossenen Raum nicht genug erleben. Ich bleibe im Langhaus, am Altar Stephan Lochners (1400/10 – 1451), an dem Schrein mit den Gebeinen der Heiligen Drei Könige, auf dem Mosaik des Chors und wieder zurück im Querhaus stehen.

Die Dreikönigenpforte in der Nähe der Kirche Sankta Maria im Kapitol kommt mir in den Sinn, in deren Nähe der Erzbischof und Reichskanzler Kaiser Friedrich Barbarossas (um 1122 – 1190), Rainald von Dassel (1114/1120 – 1167) im Sommer 1164 die Gebeine der Heiligen Drei Könige von Mailand nach Köln gebracht haben soll. In römischer Zeit standen da Tempel und weiter westlich, um den heutigen Neumarkt, – Thermen. Diese Bauten, die in Köln leider nicht mehr vorhanden sind, gehören zu den m.E. schönsten der römischen Alltagsgeschichte und können vielerorts an archäologischen Stätten europaweit betrachtet werden. Natürlich dachte ich im verregneten Köln der 1990er Jahre immer wieder an das caldarium, während ich in Cafés um den Neumarkt heiße Schokolade trank.

Doch von der Domplatte aus betrachte ich jedes Mal von oben herab das kurze Stück gepflasterter römischer Straße, die unweit des Römisch-Germanischen Museums erhalten geblieben ist. Früher hüpfte ich unten von einem Stein auf den anderen, über die breiten Furchen, die sie umgaben, und dachte an die zahllosen gebrochenen Achsen der Wägen in den Antike und der ebenso vielen verletzten Knöchel von Sandalenträger*innen. Aber vielleicht war damals Sand und Schotter zwischen den großen Steinen etwas höher oder wurde regelmässig erneuert, so dass es nur leichte Unebenheiten gab.

Der Heinrich-Böll-Platz hinter dem Dom, hinunter zum Rhein, hat mich in Köln von Anfang an fasziniert. Für eine Zwischenprüfung an der Universität lernte ich Kölner Denkmale in- und auswändig, darunter auch Verschiedenes über diese Treppenarchitektur gestaltet von dem israelischen Künstler Dani Karavan (1930-2021). Heute ist die Anlage unter anderen mit Lavendel begrünt und lässt mich immer wieder an den Süden Frankreichs denken. In Portbou, an der Grenze zu Spanien, gibt es seit Mitte der 1990er Jahre eine Gedenkstätte „Passagen“ ebenfalls von Karavan in Erinnerung an Walter Benjamin (1892-1940) errichtet, die ich Anfang der 2000er besuchte. In Köln führen weite Terrassen zum Rhein, in Portbou ist es ein schmaler Korridor aus Stahl, der Besucher zum Wasser leitet. Gemeinsam ist den Orten, wie mir scheint, die Melancholie: in Köln grenzt die Anlage an den Bahnübergang der Hohenzollernbrücke, in Porbou ist das Denkmal an der dortigen Friedhofsmauer gebaut. In beiden Fällen spielen Wind, Wasser und Licht eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung der Ensembles.

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Von Byzanz weg… / unterwegs (Serie)

An ein Praktikum in der nördlichen Moldau und der Bukowina nach dem vierten Semester Kunstgeschichte an der Bukarester Akademie der Kunst erinnere ich mich immer wieder gerne. Wir hatten die Aufgabe, die ikonographischen Programme der Malereien in den mittelalterlichen Kirchen zu verfolgen und Abweichungen zu interpretieren. Es war ein heißer Sommer und wir suchten alle relevanten Klosterkirchen mit Aussen- und Innengemälden auf. Damals lernte ich von der damaligen Professorin Corina Popa (*1942), dass es für Kunsthistoriker*innen keine verschlossenen Türen gibt, wenn es um Kunst geht.

Wir gingen entschieden in die Kirchen rein bis zum Altarraum, der in orthodoxen Ländern nur dem Priester vorbehalten ist und hielten uns dort auf, bis alle Heiligendarstellungen erschöpfend besprochen waren. Den entrüsteten Nonnen erörterten wir den Wert der Kunst und der Denkmale, der auf jeden Fall als der religiösen Nutzung übergeordnet zu sehen sei. Erst nachdem wir alles aufgezeichnet und vertieft hatten, verließen wir wieder die Räumlichkeiten unsicher darüber, ob wir selber unter Zeitdruck zum nächsten Denkmal eilten oder mehr oder minder verdeckt rausgeschmissen wurden.

Auf jeden Fall nahm ich die Überzeugung mit, dass ich vor verschlossenen Türen an Denkmalen keinen Halt machen muss. Und in meinen späteren Reisen durch Europa sah ich eigentlich alles, was ich sehen wollte, sei es dass der Schlüssel einer romanischen Kirche mittags bei einem schlafenden Küster war, sei es dass der Besuch einer Sehenswürdigkeit nur einer begrenzten Anzahl von Touristen gestattet wurde, oder dass in einem bestimmten Raum gerade getagt, gefeiert oder gebetet wurde.

In einem Sommer in den 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts war ich in einem Urlaub auf der Chalkidiki. Ich nahm das als Anlass auch Thessaloniki zu besuchen und da die byzantinischen Kirchen. Seit einer Reise in meiner Kindheit war ich in dem Griechenland meiner Großeltern nicht mehr gewesen und vieles wusste ich nicht mehr. An der Osios David, der Kirche des ehemaligen Latomos-Klosters – seit 1988 Teil des UNESCO-Welterbes – war der Pförtner unwillig uns, wenigen Touristen, die Tür zu öffnen. Es war Mittag, es war heiß, er setzte sich auf einer Bank vor dem Eingang in der Kirche und machte keine Anstalten die Kirche jemals öffnen zu wollen. Nach einiger Wartezeit, in der sich niemand und nichts bewegte, sammelte ich meine Erinnerungen der griechischen Sprache zusammen – „Du kannst das, was die Griechen vergessen haben“, pflegte mein Großvater zu sagen -, und bat ihn in seiner Sprache, uns den Raum zu öffnen. Tatsächlich leuchtete sein Blick auf, er erhob sich, holte die Schlüssel aus der Tasche und öffnete mit einer breiten Geste die Tür. Ich wusste, dass ich so schnell nicht wieder jene Orte besuchen würde und ich war froh, damals diese einmalige und sehr frühe Darstellung in Mosaik des bartlosen Christus zu bewundern. Was ich denn dem Pförtner geflüstert hätte, wollte ein westlicher Tourist wissen, der sich über den Wandel in der Gesinnung des Gastgebers wunderte. „Ich weiß es nicht“, antwortete ich, „aber es war wohl richtig.“

Den Rest des Urlaubs verbrachte ich auf Sithonia und träumte davon Athos besichtigen zu können. Am Strand schmiedete ich Pläne, in denen ich als Mann verkleidet vom Meer aus die Halbinsel erreichen würde. Dann würde ich mich von Kloster zur Einsiedlung und zum Stift schleichen und jene Kunstwerke betrachten, die Athos niemals verlassen haben. Ich frage mich, ob es heute möglich ist, mit der neuen Technologie, mittels einer Kamera an einer Live-Reise für alle, die Athos nicht betreten dürfen, teilzunehmen? Ob Athos Internet kennt? Dann könnten vielleicht  Kunsthistoriker von calaios.eu einmal hinfahren und für uns die Türen öffnen. Damals gab ich mich am letzten Tag meines Aufenthalts in Thessaoniki zufrieden mit dem Besuch der ersten Ausstellung in Griechenland, in der die „Schätze vom Berg Athos“ (1997) einer breiten Öffentlichkeit gezeigt wurden.

Der festen Gläubigkeit hingegen fielen nach der Wende in Rumänien einige Denkmäler zum Opfer. In so manchen Gegenden trugen die Bewohner alte Kirchen ab und ließen neue und „schöne“ an ihrer Stelle errichten. Ich war bereits im Westen, hörte hin und wieder von den verzweifelten Aufrufen von Kunst- und Kulturschaffenden vor Ort und konnte die Ereignisse nicht einmal mehr verfolgen. Ein anderer, anstrengender Alltag nahm mich mit in ein anderes Leben, weg von Byzanz. Das Los der Denkmale aber ist jener, anderer Werke der Menschheit ähnlich. Einiges bleibt erhalten, anderes wird zerstört, wenige werden gerettet, die meisten vergessen, umgebaut, dem Erdboden gleich gemacht. Für Kunsthistoriker bleiben Bruchstücke, Erinnerungen, Fragmente schriftlicher oder materieller Zeugnisse, Spolien und Palimpseste, aus denen eine vergangene Zeit mehr oder weniger realitätsgetreu  nachgezeichnet wird.

 

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Prinzregentenbrunnen / Brunnen in Augsburg (Serie)

„An der Wende zwischen Renaissance und Barock schufen die Künstler Hubert Gerhard und Adriaen de Vries drei Monuentalbrunnen, Bronzeplastik von italienischer Eleganz. Diese Brunnen wurden zur 1600-Jahr-Feier der Stadt entlang der heutigen Maximilianstraße, Augsburgs kaiserlicher Prachtstraße, und vor dem Rathaus aufgestellt.

Jedes Jahr zur Osterzeit werden die im Winter geschützten Brunnen aufgedeckt, und sie beginnen wieder zu fließen, rauschen, sprudeln und zu plätschern. Seit 1986 wird in Augsburg zur Sommerszeit ein Brunnenfest gefeiert. Dabei wird einer der drei Prachtbrunnen im wahrsten Winne des Wortes lebendig. Spätabends steigt der römische Kaiser Augustus von seinem Brunnensockel herunter, die vier Flußgötter erwachen zum Leben und vier kleine Putten treiben ihren Schabernack. Dieses getanzte Augustus-Traumspiel, von Fritz Kleiber geschaffen, begeistert stets Touristen und immer wieder auch die Augsburgerinnen und Augsburger.“

(Schad M., Brunnen in Augsburg. Fotografien von Helmut Müller. Bindlach 1992, S. 7)

In den 1990er Jahren saß ich an der Universität zu Köln in verschiedenen Seminaren zur Kunstgeschichte Westeuropas. Ich erinnere mich an eine Sitzung, in der ein Vortragender über die Brunnen in Augsburg referierte. Ich war mehr als nur erstaunt, ich war sprachlos. Wieso widmete man sich einem so nichts sagenden Themas, fragte ich mich. Ich wusste nichts über die Urbanistik in Deutschland und stellte mir vor, dass jede Stadt in Westeuropa mindestens ein Dutzend Brunnen wie Fontana die Trevi in Rom oder Fontaine des Mers auf dem Place de la Concorde in Paris haben müsste. Warum also eine Arbeit solch bescheidener Beispiele in einer kleinen Stadt in Bayern widmen?

Erst später verstand ich den Stellenwert der Brunnen in Augsburg und ich schätzte sie, erst als ich hierher zog. Dass solche Kunstwerke auch hierzulande nicht alltäglich sind, wurde mir nach und nach bewusst. Umso bedeutender also die drei Prachtbrunnen der Stadt. Im Juli 2019 wurde das weltweit einzigartige Wasserleit-System in Augsburg zum UNESCO-Welterbe ernannt. Zu dem Zeitpunkt kannte ich bereits die Bedeutung des Wassers für die Stadt an der Lech und an der Wertach und ich hatte auch schon viele der Brunnen gesehen.

Allein 36 Augsburger Brunnen stellte Martha Schad in dem o.a. Buch von 1992 vor.

September 2022 immer noch sehr warm und immer noch Corona. Ich gehe alle zwei Tage eine ältere Dame im Krankenhaus besuchen. Alle zwei Tage laufe ich bis zum Königsplatz, mache den Test und gehe damit und dann ab ins Diakonissenkrankenhaus über den Prinzregentenplatz. Zum ersten Mal nehme ich mir die Zeit, über die grüne Insel mit dem Brunnen zu gehen und fotografiere die Blumen. Gelb und Lila – im Komplementärkontrast, der mir am besten gefällt.

Der Brunnen ist wuchtig, hat einen hohen Becken und oben auf der Säule steht die Bronzefigur des bayerischen Prinzregenten Luitpold (1821-1912). Er hatte nach dem Tode König Ludwigs II. (1886) die Regentschaft übernommen, zu seinem 80. Geburtstag (am 12. März 1901) sollte der ihm gewidmete Brunnen fertiggestellt sein. Der Brunnen wurde vom Münchner Bildhauer Franz Bernauer (1861-1916) geschaffen und von August Riedinger (1845-1919) aus Augsburg gegossen. 1903 war er erst fertig, zur Einweihung kam der Sohn des Prinzregenten, Prinz Ludwig, der spätere und letzte bayerische König Ludwig III. (1845-1921).

(vgl.: Schad, Brunnen in Augsburg, 27. Der Prinzregentenbrunnen, S. 73.)

Ich blicke auf das – gemessen an den Dimensionen des Brunnens – relativ kleine Wassersprudel aus Delphinköpfen und schaue hinauf auf den ehemaligen bayerischen Herrscher. „Luitpold Prinzregent von Bayern“ steht auf dem Steinsockel, darunter in verkröpften Rundbogennischen in Hochrelief – die, von der Witterung zerfressenen Porträts der vier Könige von Bayern aus dem Haus Wittelsbach: Maximilian I. Joseph (1756-1825), Ludwig I. (1786-1868), Maximilian II. Joseph (1811-1864) und Ludwig II. (1845-1886). Der Prinzregent trägt einen schweren Mantel über der Tracht des Hubertusordens, wie ich später zu Hause einer Reiselektüre entnehme. Dort auf dem Platz ist es aber zu heiß, bei dem Anblick des Gewandes wird mir schwindlig. Ich blicke auf das erfrischende Wasser und verlasse die grüne Insel.

Bis zu dem Bett meiner zwischen Leben und Tod schwebenden, alten Dame, denke ich noch an den im Sommer wie im Winter schönen Königsplatz in München, an die Antikensammlung, an die Glyptothek, hier an manche der römischen Kaiser, denen die Brutalität und Verrücktheit bis heute ins Gesicht geschrieben steht: Caligula (12-41), Nero (37-68),  Domitian (51-96), Commodus (161-192), Caracalla (188-217)… Ich weiß nicht mehr, ob ich sie aus Büchern oder aus der Münchner Sammlung römischer Porträts kenne. Einige sind gewiss in der Glyptothek zu sehen. Kein erfreulicher Anblick.

Die Fahrstuhltür im Krankenhaus schließt sich. Ich bin mit einem negativen Test erfolgreich am Empfang vorbeigekommen, der Nachmittag gehört der Gegenwart und den damit verbundenen Sorgen.

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In eigener Sache / Nachtrag zur Magisterarbeit von 1998

Albrecht Dürer (1471-1528), Selbstbildnis im Pelzrock, 1500, Lindenholz; 67,1 cm x 48,9 cm; München, Alte Pinakothek, Inventarnr. 537.

https://www.sammlung.pinakothek.de/de/artwork/Qlx2QpQ4Xq/albrecht-duerer/selbstbildnis-im-pelzrock

In seinem Selbstbildnis von 1500 hat Albrecht Dürer sich ähnlich wie Christus dargestellt und damit eine nicht von Menschenhand gemachte Ikone nachempfunden. Zugleich hat er sich selbst in allen Details abgebildet und es ist heute noch so, als wäre er auf der Tafel lebendig. Er hat die Aura des Abbilds der Ostkirche zusammengelegt mit Aura des Abbilds der Renaissance in einem Selbstbildnis. Genial! Ich muss zugeben, ich habe das bisher nicht gesehen… Sorry!